Le Pop 4 [Pop]
Neue Freiheit, neue Vielfalt, neue Eleganz.
Nach anderthalbjähriger Pause kehrt die "Le Pop"-Compilation-Reihe mit "Le Pop 4" endlich zurück.
Und in der Zwischenzeit hat sich einiges getan. Die französische Musikindustrie befindet sich in einer der grössten Umwälzungsphasen ihrer Geschichte, die Majors orientieren sich um immer mehr kleinere Produktionsfirmen und Labels werden gegründet. Um das Thema 'Nouvelle Chanson' kümmern sich nicht mehr wie früher nur eine Handvoll Firmen, sondern eine unübersichtliche Vielzahl an Produzenten und zunehmend auch die Künstler selbst. Das Schöne an der neuen Situation: Durch den erhöhten Konkurrenzdruck entsteht bei grösserer Vielfalt eine neue Qualitätsdichte. Indie und neuer Chic – was wie ein Widerspruch klingt, ist heute in Frankreich Selbstverständlichkeit.
Und auch eine stilistische Umorientierung ist auszumachen. War in der Zeit vor "Le Pop 3" vor allem der Trend zu einer 'neuen Sachlichkeit', zur Wiederbelebung der sogenannten Rive-Gauche-Tradition – die vor allem auf Text zu puristischer Darbietung setzt – zu beobachten, so sind es gerade die Hauptvertreter dieser Welle, die sich über sie hinwegsetzen. Ausgerechnet Vincent Delerm, das Aushängeschild des neuen Rive-Gauche, setzt mit seinem letzten Album "Les Piqûres D'Araignée" einen neuen Meilenstein weg von minimaler Instrumentierung, hin zum ausgeklügelten Popsong. Delerms Beitrag zu "Le Pop 4", "Sépia Plein Les Doigts", ist vielleicht der stärkste Nachweis dieser Entwicklung. Auch Jeanne Cherhal brach mit der eher traditionellen Ausrichtung ihres Debüts. Ihr neues Album "L'Eau" ist dank neuer Regie vielschichtiger arrangiert und hat mit der Single "Voilá" einen beeindruckenden Schritt Richtung Pop gemacht. Den stärksten Schnitt jedoch vollzog Pierre Lapointe. Statt sich an der Machart seines starken Debüts zu halten – nicht wenige Kritiker erinnerte er damals an Klassiker wie Brel oder Ferré – spielte Lapointe mit "La Forêt Des Mal-Aimés" erstmals die Popkarte aus. Opulente Arrangements paart er mit Uptempo und umwerfenden, zum Teil sogar hymnischen Melodien. Subtil und stilsicher zugleich, wie sein Beitrag "Qu'en Est-il De La Chance?" zeigt. Ein Stück Blue-Eyed-Soul nicht nur für Frankophile. Nicht zufällig der Opener für "Le Pop 4".
Geradezu vorbildhaft für diese Entwicklung waren Holden, deren erklärte Fans wie Jeanne Cherhal, Vincent Delerm und Albin de la Simone zuletzt als Gäste bei ihrem Konzert im Pariser 'La Cigale' auftraten. Autonom von den Trends im Neo-Chanson entwickelte die Band um das Songwriterpaar Armelle und Mocke einen Sound zwischen elektronischer Avantgarde, englischem Pop und französischen Wurzeln. Ihr Produzent, der Deutsch-Chilene Uwe Schmidt – auch bekannt als Señor Coconut und Atom Heart – schuf zusammen mit Holden einen fast futuristischen Entwurf des Chanson. Modern, was Sounds und Atmosphären angeht, zeitlos und raffiniert bei der Komposition von Melodien. Der "Le Pop 4"-Beitrag von Holden, "Madrid", führt all dies exemplarisch vor. Der Song stammt von ihrem aktuellem Album "Chevrotine", das zusammen mit "Le Pop 4" in Deutschland und Österreich bei Le Pop Musik erscheint.
Auch für Dominique A verkörpern Holden ein Ideal an Eleganz, wie er immer wieder betont. Dass der Urvater der Nouvelle Scène selbst einiges davon versteht, zeigte er zuletzt mit seinem fantastischen Album "L'Horizon" – das Stück "Dans Un Camion" ist ein eindrucksvoller Beleg. Mathieu Boogaerts wiederum bestätigt mit "Les Tchèques" seine Ausnahmestellung als stilbildender Künstler. Seine Coverversion von Dick Annegarn klingt wie eine lässige Fortsetzung seines Meisterwerks "Michel". Hier zeigt Boogaerts, wie man sich durch Interpretation ein Stück so zu eigen machen kann, als stamme es aus eigener Feder. Thierry Stremler, der zuletzt als Songwriter altgediente Stars wie Françoise Hardy und Dave versorgte, demonstriert mit seinem fast croonerhaften Ohrwurm "Idéal Modèle" alte Stärke. Rechtzeitig zur Veröffentlichung von "Le Pop 4" steht seine erste Platte seit vier Jahren vor der Veröffentlichung. Sein Freund Pascal Parisot dagegen hat sein jüngstes Werk "Clap! Clap!" im Herbst letzten Jahres herausgebracht. Mit "Le Naturel" schlägt der Meister der aussergewöhnlichen Arrangements eine Brücke zwischen Exotica und Chanson. Der geniale Einfall, eine Posaune als Elefantendouble einzusetzen, ist wohl einzigartig in der Popgeschichte.
Doch was wäre eine neue "Le Pop" ohne Neuentdeckungen?! Die Sängerin Austine war bis zu ihrem letztjährigen Debüt nur durch Samplerbeiträge und EPs aufgefallen. Was sich dort schon an Talent andeutete zeigt sich auf ihrem Debutalbum "Oh La La" in voller Blüte. Auch hier passt das Thema 'neue Eleganz': eine klassische Chanson-Stimme in der Tradition von Françoise Hardy, jedoch hauchzart gemischt mit Popappeal à la Belle & Sebastian, brillant und subtil zugleich. Eddy (la) Gooyatsh ist sogar in Frankreich noch zu entdecken. Dank seines unverschämten Hits "L'Amour Et L'Eau Fraîche", der ironisch den von >M<, Parisot und Albin de la Simone entwickelten Hauptstadt-Sound an die Ardèche entführt, sollte Eddy nicht mehr lange ein Geheimtipp bleiben. Ludo Pin dagegen gelang das Kunststück, schon mit seiner Debüt-Single "3 Secondes" auch ausserhalb Frankreichs Airplay zu bekommen. Sein eigenwilliger Stil mit Hip Hop-Einschlag ist dank einem feinen Händchen für Hooklines eingängig und markant. Wer sich vor allem in der Pariser Szene herumtreibt wird früher oder später über den Namen Pacal Colomb stolpern. Er arbeitete bisher vor allem als Studio-Musiker und Arrangeur mit Größen wie >M<, Stremler, de la Simone und Mickey 3D. In Eigenregie brachte er letztes Jahr sein erstes Album "Boulevard De La Mer" heraus, auf dem sich das an rhythmischer Originalität kaum zu überbietende Juwel "Toute Ressemblance" befindet. Nicolas Haas ist ein alter Freund von Jérôme Minière. Gemeinsam besuchten sie die Brüsseler Filmschule. Heute verschafft ihm sein Job als Komponist für Film und Werbung die künstlerische Freiheit, Indie-Hymnen wie "Si Un Jour Tu Hésites" zu schreiben. Noch eine ganz wunderbare Entdeckung ist Mélanie Pain, derzeit vor allem als Sängerin für Nouvelle Vague unterwegs. Nichts für Nichtrauchercafés ist ihr romantisches "La Cigarette", das auf "Le Pop 4" seine Weltpremiere feiert.
"Le Pop 4" ist jedoch nicht nur eine aktuelle Zustandsbeschreibung des frankophonen Pop. Es ist wie seine Vorgänger auch vor allem ein Sampler, der sich durch seine behutsame und akribische Auswahl vor allem an die Hörer richtet. Durchgängig hörbar, unterhaltsam und auf elegante Art verführerisch.
Tracklisting:
01. Pierre Lapointe – Qu'en est-il de la chance?
02. Austine – Rhume
03. Vincent Delerm – Sépia plein les doigts
04. Holden – Madrid
05. Eddy (la) Gooyatsh – L'amour et l'eau fraîche
06. Mathieu Boogaerts – Les Tchèques
07. Jeanne Cherhal – Voilà
08. Pascal Colomb – Toute ressemblance
09. Ludo Pin – 3 secondes
10. Pascal Parisot – Le naturel
11. Nicolas Haas – Si un jour tu hésites
12. Mélanie Pain – La cigarette
13. Dominique A – Dans un camion
14. Thierry Stremler – Idéal modèle
15. Barbara Carlotti – Cannes
16. Bastien Lallemant – Torticolis
(Quelle: Groove Attack, 20.3.2007) FORMAT: CD
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