„Unsere neue Platte ’Radio Retaliation’ ist ganz offenkundig ein politisches Statement“, erzählt Rob Garza, die eine Hälfte der Thievery Corporation. „Es wird einfach Zeit, die Dinge mal beim Namen zu nennen: Ausgelagerte Folterszenarien, widerrechtliche Kriege, Verluste persönlicher Freiheitsrechte, Nahrungsmittel-, Öl- und Wirtschaftskrisen – so kann das doch nicht weitergehen. Es ist schwer, seine Augen zu schließen und ruhig einzuschlafen, wenn die Welt um dich herum in Flammen steht. Wenn du ein Künstler bist, bleibt dir überhaupt nichts anderes übrig, als endlich aufzustehen und die Missstände offen anzusprechen.“
Und genau das ist es, was auf ihrem neuen Album geschieht.
Rob Garza und Eric Hilton, die beiden Köpfe hinter dem weltweit bekannten DJ- und Produktionsteam Thievery Corporation, sind während der Aufnahmen in ihrem Studio im Herzen Washington DCs regelrecht aufgeblüht. Und das, obwohl sie die Stadt oft mit Babylon vergleichen - ein ergreifender Verweis auf die traditionelle Abneigung und das Misstrauen der Rastafaris gegenüber einem korrupten und fälschlicherweise als fortschrittlich erachtetem System. Sicherlich, Washington steht als Hauptstadt der Vereinigten Staaten stellvertretend für das Bild vom aggressiv-agierenden Amerika. Doch paradoxerweise war die Stadt lange Zeit Heimstätte einer musikalischen Subkultur, die stets von einer leidenschaftlichen Unabhängigkeit, einem überzeugten Do-It-Yourself-Ansatz und einem gewissenhaften sozialen Aktivismus gekennzeichnet war. Beispiele dafür sind zum Beispiel die Genre definierenden Großwerke solcher Pioniere wie dem Godfather Of Go-Go Chuck Brown oder den Hardcore-Legenden Bad Brains, Minor Threat und Fugazi.
Abseits davon gibt es auch heute immer wieder Leute, die Thievery Corporation vorzeitig und ungerechtfertigt in die Schublade einer Kapelle stecken, die lediglich den Hintergrund-Soundtrack für die amüsierwillige Abendgesellschaft liefert. Doch wer auch mal einen kurzen Blick hinter die Fassade riskiert, kann schnell feststellen, dass das Duo einen Großteil ihrer Kreativität (immer schon) tief aus dem Brunnen der unabhängigen und konfrontativen musikalischen Subkultur ihrer Heimatstadt geschöpft hat. Anders wäre es ihnen wohl auch kaum möglich gewesen, diesen einzigartigen und nur schwer zu beschreibenden Katalog musikalischer Großartigkeiten aufzubauen.
Nachdem sie 1996 mit den beiden Underground-Hits „Shaolin Satellite“ und „2001 Spliff Odyssey“ auf ihrem eigenen Label ESL Music bereits für ordentlich Aufsehen gesorgt haben, wurde schon kurze Zeit später die legendäre „Sounds From The Thievery Hi-Fi“-LP releast – ein Album, das ein ganz neues Genre erschaffen, und auf dem sich bereits sehr deutlich ihre „Outernational Sound Aesthetic“ herauskristallisiert hat. Die darauffolgenden Jahre haben sie dem Remixen von Werken solcher Künstler wie David Byrne, The Doors und Sarah McLachlan gewidmet und nebenbei drei weitere hochgelobten Platten mit eigenem Material veröffentlicht, nämlich „The Mirror Conspiracy“ (2000), „The Richest Man in Babylon“ (2002) und „The Cosmic Game“ (2005) – jedes für sich ein eigenes kleines Meisterwerk, mit dem sie sich in Umfang, Style und Inhalt jedes Mal wieder selbst übertroffen haben.
Derzeit bereiten sich Thievery Corporation schon mal mental und intensiv darauf vor, im September endlich ihr aufwieglerisches fünftes Studioalbum „Radio Retaliation“ auf die Massen loszulassen. Inspiriert wurde die Platte durch solch kompromisslos-politische Künstler wie The Clash, Public Enemy und Fela Kuti, wodurch Garza und Hilton zweifellos ihr bis dato progressivster und weiträumigster Longplayer gelungen ist. Ein Longplayer, der die harten und lange verloren geglaubten sozialpolitischen Inhalte wieder zurückbringt in die Popmusik von heute. Endlich.
„Abgesehen von ein paar letzten Indie-Bastionen kommt heute kein Funken musikalischer oder informeller Freiheit mehr über den Äther. Die Radiosender sind alle aufgekauft, konsolidiert und homogenisiert worden. Die Musik leidet darunter genauso wie die Gesellschaft an sich. Auf ‚Radio Retaliation’ geht es daher um die Flucht gewissenhafter Leute, die bereit sind anzuerkennen, dass die offiziellen Versionen von Kultur und Nachrichten oftmals nur die halbe Wahrheit sind“, erklärt Hilton konsterniert. „Wenn man sich das Cover anschaut, sind darauf einige mexikanische Zapatistakämpfer abgebildet. Die tragen Masken, um nicht von rechtsradikalen Todesschwadronen erkannt, verfolgt und bedroht zu werden. Solche Bewegungen wie die der Zapatisten sind eine große Inspirationsquelle für uns, und das hört man auch sehr deutlich auf dem neuen Album.“
„Unsere Platten waren auch noch nie so international ausgerichtet wie diese jetzt“, fügt Garza hinzu, jongliert „Radio Retaliation“ doch gekonnt mit den vielfältig-eklektischen Soundbausteinen aus Jamaika, Lateinamerika, Afrika, Asien und dem Mittleren Osten. „Wir haben dieses Mal mit Künstlern auf der ganzen Welt zusammengearbeitet. Die Wurzeln unserer Inspiration haben ja immer schon darin gelegen, sich so weit wie möglich auszubreiten und zu schauen, was aktuell auf der Welt los ist. Und momentan passiert einfach verdammt viel, und zwar in sämtlichen Bereichen.“
Doch auch musikalisch haben Thievery Corporation die Latte wieder mal ein ganzes Stück höher gehängt und sich dabei von einem bunten Haufen interessanter Leute unter die Arme greifen lassen: Nigerias Afro-Beat-Erbe Femi Kuti (der älteste Sohn Fela Kutis), Brasiliens Star-Vokalist und –Gitarrist Seu Jorge, die indische Sitar-Virtuosin Anushka Shankar, die slowenische Sängerin und Violinistin Jana Andevska und Wahshington DCs Go-Go-Legende Chuck Brown – sie alle haben es sich nicht nehmen lassen, ihr eigenes künstlerisches Statement auf dieser herausragenden Platte abzugeben. Aber auch alte Weggefährten wie Sleepy Wonder, Lou Lou, Notch, Zee und Verny Varela sind wieder mit dabei und bestechen einmal mehr durch eine wunderbar unaufgeregte Vielseitigkeit.
Ein stilbildendes Element im Soundbild der Thievery Corporation ist immer schon eine immense Entschlossenheit im Umgang mit einer unnachahmlichen Form von organischer Qualität gewesen, die sich auch durch die reichhaltige Produktion von „Radio Retaliation“ oder die kürzlich absolvierten Live-Gigs zieht. Trotz ihrer eher minimalistisch zu nennenden Anfänge haben sich Garza und Hilton über die Jahre hinweg ein ständig wachsendes Netzwerk an Musikern, Sängern und kreativen Mitstreitern aufgebaut, die mit einer beispielhaften Energie auf der Bühne zu einer 15-köpfigen Live-Band zusammengewachsen sind. Dem-entsprechend geblendet sind die Thievery Corporation-Anhänger, wenn die Gruppe das Publikum bei ausverkauften Shows und Festivals mit ihrer kaleidoskopischen Live-Show jedes Mal auf’s Neue begeistert und in Verzückung versetzt.
Mit Hilfe langjähriger Partner wie dem UN World Food Programme versucht die Thievery Corporation zudem schon seit geraumer Zeit, nicht nur die tanzenden Körper der Menschen selbst, sondern auch etwas in deren Köpfen zu bewegen. „Wir wollen definitiv unseren Teil dazu beitragen, dass die Leute endlich anfangen, nicht nur Augen und Ohren zu öffnen, sondern auch ihr Gehirn einzuschalten“, erklärt Garza. „Unsere Live-Shows sind daher das beste Beispiel für eine funktionierende dynamische Verknüpfung musikalischer, kultureller und gesellschaftlicher Interessen. Deshalb hört man bei unseren Gigs einen Perser in Farsi singen, hört spanisch, portugiesisch und französisch, hört verschiedene Ansichten über die Probleme dieser Welt und das lässt einen nachdenken…und solange man die Menschen dazu bringt, die Dinge zu hinterfragen und einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, und sei es nur für einen kurzen Augenblick, kann der eingeschlagene Weg doch nicht allzu falsch sein. Oder?“