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CD-DETAILS POSTCARDS FROM A YOUNG MAN [MANIC STREET PREACHERS]


Foto: Dean Chalkley

Manic Street Preachers

Postcards From A Young Man [Pop]


RELEASE: 17.09.2010


LABEL: Columbia

VERTRIEB: Sony Music

WEBSITE: www.manics.co.uk

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Trommelwirbel, Fanfare, Zäsur: Achtung, Jubiläum! Mit “Postcards From A Young Man” veröffentlicht die walisische Pop/Rock-Institution Manic Street Preachers im September 2010 ihr mittlerweile 10. Album. Darauf sollen – die Fans wird’s freuen - altbewährte Qualitäten zum Tragen kommen: Nach dem vorsätzlich vergangenheitsbewältigenden Werk „Journal For Plague Lovers“ im vergangenen Jahr, das unter der Leitung Krach-Koryphäe Steve Albini entstanden war, kündigt die Band für den kommenden Release u. a. Refrains im Stadionformat à la „Everything Must Go“ und eine Rückkehr zu den klassischen Rock-Wurzeln ihres 2007er-Albums „Send Away The Tigers“ an.



„Wir setzen diesmal wieder auf große Radio-Hits“, diktierte Frontmann James Dean Bradfield den Redakteuren des NME jüngst ins Mikro. Als Produzent griff das Trio wieder auf ihren bewährten Studio-Partner Dave Eringa zurück, der bislang an fünfeinhalb Manic Street Preachers-Alben (u.a. der UK-Nummer-1-LP „This Is My Thruth Tell Me Yours“) und Bradfields Solo-Longplayer "The Great Western"aus dem Jahre 2006 entscheidend mitgewirkt hatte. Chris Lord Alge (Green Day, Billy Talent, Paramore) übernahm den Mix.

Anlässlich der Veröffentlichung von “Postcards From A Young Man” unternimmt die Band ihre bis dato umfangreichste Tournee durch Großbritannien. Zwischen dem 29. September und 1. November spielen James Dean Bradfield, Nicky Wire und Sean Moore knapp zwei Dutzend Konzerte. Im Vorprogramm: British Sea Power.

Biografie und "Track by Track
„Das Geheimnis des Lebens ist es, ein Ziel zu haben. Etwas, dem man sein ganzes Leben widmen kann, dem man alles unterstellt, jede Minute jeden Tages deines gesamten Lebens. Und das Wichtigste ist: es muss etwas sein, das du eigentlich überhaupt nicht schaffen kannst.“
(Henry Moore)

Die meisten Bands kommen nicht bis zu ihrem 10. Album. Und oft ist das auch gut so. Denn üblicherweise haben sich bis dahin die gesamte jugendhafte Lebendigkeit, der Witz, die Freude, der Eifer und die Hingabe nahezu komplett verflüchtigt. An ihre Stelle sind längst Selbsthass, Enttäuschung und der bittere Nachgeschmack unerfüllter Versprechen getreten. Oder der alles lähmende Elder-Statesman-Status, der so heimtückische Fallgruben bereit hält wie „Lifetime Achievement Awards“, die „Rock and Roll Hall Of Fame“ oder jene Kiste, die ziemlich verdächtig nach Sarg aussieht. Man hat sich viel zu sehr an einander gewöhnt, um sich noch wertschätzen zu können, aus alten Freunden werden Fremde, die Lorbeeren sind platt gesessen und die prähistorischen Erfolgssongs werden alle paar Jahre für eine Greatest-Hits-Tour aus der Schublade geholt, die Scheidungsprozesse sind durch und am Ende lauert - natürlich - der unausweichliche Steuerbescheid.

10 Alben haben nun auch die Manic Street Preachers auf dem Buckel. Doch wer der Ansicht sein sollte, die Band müsse gegen das Erlöschen ihres Feuers ankämpfen, liegt komplett daneben. Die Flamme der Waliser brannte noch nie klarer und prächtiger als heute. „Postcards From A Young Man“ ist der Follow-Up zum hochgelobten „Journal For Plague Lovers“, eine Platte, deren Texte allesamt von Gründungsmitglied Richey Edwards kurz vor dessen Verschwinden im Jahre 1995 zu Papier gebracht worden waren. Dem puristischen und durchweg erstaunlichen Album war wiederum das 2007er-Werk „Send Away The Tigers” vorausgegangen, das nicht nur die Manic-Getreuen weltweit elektrisiert hatte, sondern der Band auch zahlreiche neue Fans in neuen Ländern hinzugewinnen konnte. Ein völlig neues Publikum, das ihnen völlig neue Möglichkeiten eröffnete.

In den Jahren zuvor hatten die Manic Street Preachers einen Kanon von Alben und Singles, von Konzerten, Gesten, Interviews, Witzen, Manifesten und gelegentlich auch Outfits erschaffen, der die Gruppe zu einer der interessantesten, intensivsten und inspirierendsten Bands ihrer Generation gemacht hatte. Von der zornigen mit-Kopf-durch-die-Wand-Attitüde ihres Debüts „Generation Terrorists“ über die opernhaften Pracht des stolzen „Everything Must Go“ bis hin zum ernsthaften und komplexen „The Holy Bible“ – den Manics war es stets gelungen, zu unterhalten, zu ermutigen und die Gemüter zu erregen. Sie ertrugen das Schlimmste und strebten nach dem Besten.

„Postcard From A Young Man“ ist vielleicht ihr bestes Album bislang. Moment, das klingt nun doch ein wenig ketzerisch. Vielleicht doch eher „eines ihrer besten Alben“. Auf jeden Fall ist es ein komplett anderes Album als, sagen wir, „Journal For Plague Lovers“ oder „The Holy Bible“. Dabei steht es weiß Gott nicht im Widerspruch zu diesen unterkühlten Meisterwerken, sondern vielmehr im Einklang mit ihnen. Es ist rebellisch, kämpferisch, gerade heraus und mitteilsam. Sein Thrill speist sich zu gleichen Teilen aus Melodie und Idee (der bewährt berauschende Mix der Manics), und entfacht eine tosende Melancholie, wie es keine andere Band vermag. „Bei uns war das schon immer so“, erklärt James Dean Bradfield. „Schau dir z. B. den Text von ‚Motorcycle Emptiness‘ an – man könnte ihn auch auf total kalte, teutonische Art und Weise singen. Aber wir waren nie dieser Typ Band. Wir wollen dieses erhebende Gefühl in unserer Musik. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass im Schreien eine Eloquenz inne wohnt, dass dich diese Gefühle in eine positive Stimmung bringen und dir Kraft geben.“

„Jemand hat einmal gesagt, dass die meisten Autoren zwei großartige Romane schreiben und sich danach nur noch wiederholen“, ergänzt Nicky Wire. „Von unserer Band gibt es möglicherweise zwei Versionen. Es gibt die ‚Journal‘- und ‚Bible‘-Fassung und es gibt diese hier. Jene völlig übersteigerte hysterische Erhabenheit, dieser Blitz der Erkenntnis. Zu feiern, was wir wirklich sind, hat etwas sehr Glorreiches. All diejenigen, die so waren wie wir, sind fort. Jetzt liegt es ganz alleine an uns.”

Die Manics sind nach wie vor von der Macht der Kunst, Dinge zu ändern und eine befreiende Wirkung zu haben, überzeugt. Sie haben sich den Glauben an die Nische, die ihnen die liebste ist, erhalten: jene „Promadenmischung“ namens Rock’n’Roll. Ausgestattet mit einer unerschöpflichen Leidenschaft für Politik, Kunst, Poesie, Philosophie, Film, Sport und Literatur halten sie das Prinzip „Rockband“ – mit all seinen Möglichkeiten, mit Massen von Menschen in Kontakt zu treten - immer noch für etwas Wichtiges, Priviligiertes, ja, sogar Nobles. Ganz egal was die Schwarzseher und „Experten“ davon auch halten mögen. „Ich käme nie auf den Gedanken, mich über die Ökonomie der Kunstwelt oder des Verlagswesens zu äußern“, sagt James. „Niemals würde ich jemanden belehren wollen, der seine eigene Industrie zu schützen versucht. Doch alle Nachrichten- oder Wirtschaftskorrespondenten geben ständig ihre Expertenmeinungen über die Musikindustrie ab und verkünden, dass sie am Ende sei. Das ist es, was einen antreibt, zu schreiben. Diese Ahnung, dass du deine Kunstform verteidigst.“

„Bei den meisten Bands ist es doch so: wenn sie erst einmal ihr 10. Album erreicht haben, kommen die Leute vielleicht noch zu ihren Konzerten, doch allen ist klar, dass die Alben der letzten Jahre Mist waren“, sagt Nicky. „Wenn du ein bekannter Musiker bist, kommen alle in die Royal Festival Hall, um dich zu sehen und sind der Meinung, dass es einfach großartig ist. Doch kein Mensch hört sich deine neue Platte an. Das ist kein Zustand, der für uns befriedigend erscheint. Von Anfang an wollten wir, dass möglichst viele Leute hören, was wir zu sagen haben. Wir wollen unsere Songs im Radio hören. Alle reden vom Tod des Rockbusiness. Ich weiß nicht, aber wenn es so ist, dann ist dies ein letzter Versuch in Richtung Massen-Kommunikation.“

„Postcards From A Young Man“ entstand im Band-eigenen Studio in Cardiff unter der Regie der langjährigen Produzenten-Partners Dave Eringa, gemischt wurden die Stücke in Los Angeles zusammen mit Chris Lord-Alge. Das sind die 12 Tracks des Albums:


  1. „(It’s Not War) Just The End Of Love”

    Eine Absichtserklärung. Eine Erleuchtung. Der Sound einer Gruppe, die die Pracht ihres eigenen Daseins feiert. Lyrisch, leidenschaftlich, unverhohlen melodisch mit einer Portion Eleganz und einem mitreißenden Refrain, der einen an „Your Love Alone Is Not Enough“ erinnert.

    Nick: „In unserem besten Momenten, vereinen sich Wut und Melancholie zu erhebenden Momenten. ‚Your Love Alone Is Not Enough‘ ist eine Zeile aus dem Abschiedsbrief eines Selbstmörders. Aber wir machen daraus einen weltweiten Hit. So etwas können nur wir.“

    James: „Ich wollte einen Hauch von Sehnsucht haben. Und ich wollte, dass der Song das gleiche Gefühl transportiert, das Gary McCallister von Liverpool im UEFA-Cup-Finale 2001 hatte. Dieses ‚okay, ich bin vielleicht vierzig, aber dich mache ich immer noch nass‘. Ich liebe die Platten von Kings Of Leon, aber die stehen nur herum, Macca (Paul McCartney) rannte überall herum, als wir mit ihm auf Tour waren. Wir wollen auch überall herum sausen.”


  2. „Postcards From A Young Man”

    Ein wunderschöne Hymne an die verstreichende Zeit (“they may never be written or posted again”), die Vorläufigkeit der Wahrheit, die Unbeständigkeit von allem und die Dynamik dieser Powerballade. Unter den anschwellenden Streichern pocht der Herzschlag in Form von Seans Drums und Nickys Bass. James‘ Solo bricht einem mit seiner Schlichtheit so ganz nebenbei das Herz. Die Koda des Stückes trägt beinahe Queen-eske Züge. Vorausgesetzt, Queen hätten Nietzsches Aphorismen gelesen und wären auch nur ein Zehntel so gut wie die Manic Street Preachers gewesen.

    James: „Ich konnte meine Liebe für Queen immer nur heimlich ausleben, aber hier kann ich sie zeigen. Bei diesem Song gebe ich mir die Blöße und zeige eine andere Seite. Unsere Wut war nie machohaft. Ja, wir stammen aus den Valleys. Wir lieben unseren Sport und unser Gewerkschaftwesen. Aber wir hatten auch schon immer eine andere Seite. Nicky und Richey mochten schon immer Make-Up und Kylie. Nick hatte ein pinkfarbenes Schild in seinem Schlafzimmer auf dem ‚Love‘ stand und ein putziges, flauschiges Plumeau. Wir sind immer dann am besten, wenn unsere Songs aus fünfzig Prozent Dummheit und 50 Prozent hochmütigem Angebertum bestehen.“

    Nicky: „Ich habe alle Postkarten aufgehoben, die Sean, James, Richey und meine Mutter geschickt haben, als ich an der Uni war. Wir waren sehr fleißig beim Kommunizieren. Jedes Mal, wenn die Post kam, lag da ein Bündel mit einer Collage oder einem Poster. Es geht um Nostalgie und Jugend, es ist sentimental aber auch real. Und es trägt einen großartigen Manic-esken Titel. Der Arbeitstitel des Albums war ‘It’s Not Love, Just The End Of War’, doch dieser passt perfekt, zusammen mit dem Tim Roth-Bild auf dem Cover. Wir sind mit ‚Made In Britain‘ und ‚King Of The Ghetto‘ groß geworden. Es ist ganz einfach sehr Manics.“


  3. „Some Kind Of Nothingness“

    Stattlich, prächtig und unendlich traurig („remember you stretched out in the sun… still and lonely as an old school photograph”). Dies ist ein weiteres Duett in der großen, majestätischen Tradition der Kollaborationen mit Nina Persson, Traci Lords und Dame Shirley Bassey. Diesmal ist der Duettpartner das langjährige Idol Ian McCulloch. Ziemlich passend, den der epische, soulige Stil des Songs vereint die psychedelischen Spector-esken Klanglandschaften von ‚Ocean Rain‘ mit der Überschwang eines Gospel-Chors.

    James: „Mein erstes Konzert waren Echo And The Bunnymen in der Bristol Colston Hall, zusammen mit Richey. Ich liebte an Mac schon immer, dass er seinem Background stets treu blieb, er war sehr ‚Working Class‘, sehr brüsk und ein wenig plump. Er war mysteriöser, frivoler und boshafter als Dorothy Parker. Der Song stammt komplett von Nick. Ich wünschte, ich hätte ihn geschrieben.“

    Nicky: „Angesichts der Tatsache, dass es James‘, Richeys und Seans erstes Konzert war, hat es etwas Glanzvolles, dass er auf unserem zehnten Album singt. Es handelt vom Verlust und wie wichtig Trauer ist. Und ich denke, der Gesang, den wir aus Mac heraus gekitzelt haben, ist außergewöhnlich. Ich habe ihn beim Singen gefilmt und wenn man sich das anschaut, spürt man, wie er dabei etwas aus seiner Seele ausgräbt. Wohlgemerkt, die drei Stunden davor hat er damit zugebracht, Leute nachzumachen.“


  4. „The Descent’ (Pages 1 & 2)”

    Ein leichter Akustik-Poprock Song à la George Harrison, Bowie („Hunky Dory“-Phase) oder Mott zu „All The Young Dudes“-Zeiten. Die Akkordfolge ist so sommerlich-vertraut wie die eigene Kindheit und dann wieder so überraschend wie ein plötzlicher Wetterumschwung. Ein klassischer Tourbus-Song, doch ohne all die Uralt-Klischees, den schalen Geschmack nach Bier des vergangenen Abends, den Schweißgeruch von Socken und die ‚Spinal Tap‘-DVDs. Dies ist ein lieblicher, bitter-süßer Widerhall auf die goldene Jugend des Pop.

    Nicky: „Auf Tour zu sein ist heutzutage die reine Freude. Es ist zwar hart, aber ich spüre dieses Gefühl der Würde der Arbeit. Es ist geistige Erfrischung und erweitert deinen Horizont. Das kam allerdings erst in den vergangenen fünf Jahren, seit ‚Your Love Alone‘, das uns neuen Türen von Kroatien bis Singapur geöffnet hat. Es ist ein richtiger Toursong, der innerhalb einer Stunde in Vancouver geschrieben wurde. James fiel die Melodie im Bus ein, ich hatte ein Gedicht. Nach zehn Minuten Arbeit fügte sich eins zum anderen und der Track war fertig.“

    James: „Ich hatte stets meine Vorbehalte gegen das Jammen. Da kommt eigentlich nie etwas Gutes dabei raus. Aber das hier hat einfach funktioniert. Außerdem ist es eine Reminiszenz an meine erste Liebe, ELO.“


  5. „Auto-Intoxication“

    Eine Krankheit, bei der die Körperorgane den eigenen Organismus vergiften und unter der u. a. Yukio Mishima (und in einem weit geringeren Ausmaß Nicky Wire) leidet. Hier wird sie zur Metapher für ein toxisches, selbstzerstörerisches Gesellschaftssystem. Es ist vielleicht das widerborstigste und künstlerischste Stück auf dem Album, an dessen eigenwilliger Klanggestaltung auch John Cale mitwirkte.

    Nicky: „Wir wussten, dass das etwas für JC sein würde, dieses Feeling von ‚Ship Of Fools‘ vom ‚Fear‘-Album. Wir versuchten, das Bowie-Glam-Flair mit einem Neu!-Beat zusammen zu bringen. Und es enthält einige Ideen aus dem Buch ‚The Coming Insurrection’ des Invisible Committee, das eine Art ‚Situationist International‘ für unsere Zeit ist.“

    James: „Ich schrieb dieses Stück im Studio mit Sean und es war Nicks Idee, dem Song diesen treibenden, motorischen Krautrock-Beat zu verpassen.“


  6. „Golden Platitudes“

    Mit seiner traumartigen, fast schon MOR-haften Spannung und mit seinen Streichern, dem Klavier und dem himmlischen Refrain ist dieser Song vielleicht der freundlichste und nachdenklichste auf dem Album. Doch die Stimmung verfinstert sich und die Wolken ziehen sich zusammen: der Text ist die zornige Anklage einer politischen Klasse, die jene gesellschaftliche Schicht verraten hat, die sie einst erschaffen und ernährt hatte. Es ist der älteste Song auf dem Album und es scheint, als bilde der Text das emotionale Kernstück. Text und Music: Nicky Wire.

    James: „Aus der Sicht des Sängers ist es interessant, weil der Song ziemlich viele Worte enthält, die man unterbringen miss. Für mich ist es ein Brief an die eigene politische Partei, von jemandem, der sie verlässt und desillusioniert ist, ein enttäuschter Appel an die eigene Seite. Ich denke, hier sind die Worte am Wichtigsten. Es ist einer jener Songs, bei dem der Gesang König ist.“

    Nicky: „Für mich ist das wie die Beatles auf Steroiden. Allerdings ist es mehr ‚Free As A Bird‘ als ‚Hey Jude‘, mehr Jeff Lynne als George Martin. Und Dennis Wilsons ‚Pacific Ocean Blue‘ war ebenfalls ein großer Einfluss. Der Song ist nicht sehr schwer zu begreifen. Die wahre Arbeiterklasse wird von ihrer eigenen Partei aufgegeben, der Tiefpunkt war, als New Labour jedem einen Gratis-Laptop anbot. Die Idee, dass kostenloses Wifi und ein ‚Costa Coffee‘ die Arbeiterklasse aus ihrer Armut helfen kann - so beleidigend, so hauptstädtisch.“


  7. „Hazeton Avenue”

    So wie „Motorcycle Emptiness“ ist auch „Hazleton Avenue“ ein Track, bei dem die schrillen, hinreißend pathetische Melodie-Figur – James‘ Gitarre, verstärkt durch aufwühlende Roy-Wood-Chelli – die DNA-Spiralkette des Songs bildet. Sie umgarnt dich im Nu und hält dich für die gesamte Dauer des Songs gefangen, der von der fast schon schuldbewussten Glückseligkeit (“please accept all my apologies”) handelt, wann man sich ganz und gar dem Augenblick hingibt. In diesem Fall: ein freier Nachmittag in einem In-Viertel von Toronto.

    Nicky: „Ich denke, die Frage hier ist: bist du tatsächlich ganz du selbst, wenn du alleine bist? Es ist eine philosophische Frage, zu der auch ich keine Antwort habe. Der Song handelt schlicht von Einfachheit und den Freuden, die ein Kaffee, eine Zeitschrift und ein großes, bequemes Bett einem bescheren können.“

    James: „Nick und Sean gingen eines Nachts vom Studio nach Hause, als mir dieser Riff einfiel. Es ist ein Stück über das Paradies des Konsumenten, ein Song, der sich fragt, ob das wirklich so ein schlechtes Leben ist. Ich mochte den Text und seine perverse Freiheit. Das Album brauchte einfach einen eskapistischen Ziggy/Elton-Moment. Mit gefiel die Vorstellung von Nick, wie er sich ganz alleine vollkommen amüsiert. Was in Nicks Fall auch bedeuten kann, dass er sich fünf Stunden lang Schreibwaren anschaut.“


  8. „I Think I’ve Found It”

    Einmal mehr ein Song, der mit einem verführerischen Tusch beginnt, gefolgt von einer bittersüßen Melodie auf der Mandoline, dazu ein benebeltes Faces-Feeling mit guten Vibes und einem fast filmischen Sinn für Träumerei. Stell dir eine menschliche Silhouette vor, die an einem prachtvollen Morgen in die schäumende See läuft, im Hintergrund das Echo des Seemöwe – dann bist du nicht sehr weit entfernt.

    Nicky: „James schrieb das Stück verkatert, nach einem Junggesellen-Abschied in Tenby. Der Song ist sehr James, lieblich und plätschernd, ziemlich so wie ‚Ocean Spray‘. Jene Art von musikalischer Melancholie, die einem ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Wir alle kenne solche Momente.“

    James: „Als ich ein Kind war, schrieb ich einmal einen Fanbrief an Mike Scott, als ich eine ganze Sommernacht wach geblieben war, nachdem die Waterboys gehört hatte. Ich zündete die Ecken an, damit er alt aussieht. Ich habe nie eine Antwort erhalten, aber Jahre später war ich in einem Flugzeug und sah, dass er vor mir saß. Ich stand auf, ging zu ihm hin und stellte mich vor. Und er sagte ‚Ich hab deinen Brief bekommen‘. Er hatte ihn ganz offensichtlich gelesen und behalten. Und irgendwie hatte er sich meinen Namen gemerkt. Das hat mich doch sehr schockiert und mich verfolgte die Sache noch eine ganze Weile, wenn ich ehrlich bin. Etwas von diesem Gefühl ist in diesem Song: die Freude an der Willkürlichkeit des Lebens.“


  9. „A Billion Balconies Facing The Sun“

    Gast bei diesem Track ist Guns N' Roses-Bassist Duff McKagan. Den leichtfüßigen FM-Rock-Shuffle hat sich der Song beim Fleetwood-Mac-Klassiker „Go Your Own Way“ abgeschaut, er enthält sogar eine viertaktiges Lindsey-Buckingham-Gedächtnis-Solo. Doch die Gesamtstimmung ist recht unkalifornisch. Der Song trug ursprünglich den Titel ‘The Virtual’ (der neue Titel stammt von J. G. Ballard) und führt uns den High-Tech-Alptraum einer Internet-Kultur vor Augen, in der wir alle unsere eigenen, persönlichen Götter werden. Wo Selbstbesessenheit und Narzissmus, Rohheit und Hass den Platz von realem menschlichem Kontakt und Gefühl eingenommen hat.“

    Nicky: „Das Stück basiert ein wenig auf den Sachen von John Gray (der LSE-Professor, NICHT der Typ, der ‚Men Are From Mars, Women Are From Venus‘ geschrieben hat – S.M.). Er macht so eine Art ‚Philosophie für jedermann‘, was ja keine schlechte Sache ist. Ich hatte an der Uni ein wenig Kantische Ethik und ich fand, dass sie einfach völlig unmöglich zu verstehen ist. Was John Gray im Prinzip sagt, ist, dass wir beschäftigter denn je sind, aber tief in uns wissen wir ganz genau, dass alles, was wir tun, umsonst ist. Und das Internet ist eine Welt, wo man gemeine Dinge über Leute schreiben kann, soviel man will – ganz ohne Konsequenzen.“

    James: „Die Vorstellung, das Gefühl einer Gemeinschaft durch Technologie erschaffen zu wollen, macht keinen Sinn. Das meiste, was im Internet ab geht, scheint mir erbärmlich und eitel. Ich weiß, ich klinge wie ein sauertöpfischer, alter Mann, wenn ich sage, dass ich in meinem Leben noch keinen Computer angemacht und noch nie eine Email versendet habe, aber wozu brauche ich das? Ich habe meine Läden und Geschäfte, mein Wettbüro, meinen Pub und ich spreche jeden Tag zwanzig Minuten mit meinem Zeitschriftenverkäufer über Cricket. Was ich über Platten weiß, habe ich im Plattenladen gelernt, und was ich über Fleisch weiß, habe ich vom Metzger. Jetzt gibt es ein Tool, mit dem man sich ein Foto meiner Haustür bei Google Earth anschauen kann. Was gibt einem das?“


  10. „All We Make Is Entertainment”

    Der beschämende Niedergang und die Gleichgültigkeit hinsichtlich der Britischen Industrie ist Thema des hyperperfekten, Über-Manics-Superrock-Songs. Er schimmert, ist resolut und graziös und die Gitarren-Architektur erinnert entfernt an Slash, Stuart Adamson und Bill Nelson.

    Nicky: „Die ultimative Ironie unserer Zeit ist doch, dass unsere nationalisierte Industrie die Banken sind. Wahnsinnig komisch. Und wahnsinnig furchtbar. Wir machen die beste Schokolade der Welt – vergesst die Belgier – und lassen es zu, dass Cadbury von Kraft gekauft wird, dem Hersteller dieses geschmacklosen, amerikanischen Mists. Und was ist der Grund? Oh, weil wir nicht in die freie Marktwirtschaft eingreifen können, oder was? Aber bei den verdammten Northern Rock ging das? Ihr lügt uns an uns ändert die Regeln, wie sie euch passen, einfach so im Vorbeigehen.“

    James: „Ich wollte, dass die Musik ein wenig nach super-geschleckter, hoffnungsloser Game Show klingt. Wie ein großer, glücklicher, aber hohlköpfiger Gigant. Wir traten bei einem Festival in Bergen auf und überall dort gab es Sachen, die in Bergen hergestellt wurden. Wir stellen nichts her. Wir machen nur Unterhaltung, und nicht mal das können wir jetzt noch.“


  11. „The Future Has Always Been Here Forever’

    Nick singt die flotte Rocknummer mit einem Schuss Marc Bolan aus jener Zeit, als er seine Kobold-Stiefel gegen Plateau-Schuhe und seine Akustik-Gitarre gegen eine Les Paul eintauschte. Neben einem perfekten, kleinen Miniatur-„Electric Warrior“-Solo von James gibt es noch ein trauriges Trompeten-Duett von Sean zu bestaunen.

    Nicky: „Er ist ein solch wunderbarer Trompeter und wir wollten unbedingt etwas davon auf der Platte haben, denn es klingt großartig – er hat viel Fela Kuti und Hugh Masekela gehört. Es ist eine Art Glückbringer mit Bezug auf ‚Kevin Carter‘. Wie The June Brides gespielt von den Rolling Stones. Und ich denke. dass ich besser singe als jemals zuvor.“

    James: „Das ist der Sound der Band, die wir hätten sein können und macht Nicks Wilco-Obsession deutlich. Die Kombination aus Nicks Gesang und Seans Trompete können Dinge zum Ausdruck bringen, die ich als Musiker niemals erreichen kann.“


  12. „Don’t Be Evil“

    Ein stürmisches Finale. Die Manics in ihrer ganzen, ramponierten Rock-Glorie. Dazu ein Titel, der Googles schalem, nichtssagendem Unternehmens-Leitspruch aufgreift.

    James: „Das ist im Prinzip ein Übungsraum-Song, das Solo entstand ganz spontan. Grundsätzlich war es auf diesem Album eine Ehre, Musik zu Nicks Texten zu schreiben. Ich glaube, seit dem Moment, als er mit der Zeile ‚Libraries gave us power‘ ankam, wurde er stetig besser und besser, raffinierter und raffinierter, wie ein Laser.“

    Nick: „Es ist nicht einfach, über solche Dinge zu schreiben, ohne wie ein langweiliger, alter Mann zu klingen. Und was Sean angeht könnte das nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Er ist ein Technik-Pionier, obwohl die Haupt-Herausforderung darin besteht, die Sache überhaupt hinzubekommen. Aber man muss ein wachsames Auge haben für Dinge, sei es nun Technologie oder die eigene gesellschaftliche Schicht. Ich halte nichts von Bürger-Journalismus und Blogs. Ich will Texte von Menschen lesen, die wissen, worüber sie schreiben. Ich will, dass diese Leute qualifiziert sind. Die Möglichkeit, ekelhaft und fies zu sein, ohne Angst haben zu müssen, dass es auf einen zurückfällt – als ein Mensch, der seine Klappe oft aufgerissen und dafür ziemlichen Ärger bekommen hat, ärgert mich das! Es hat den Menschen das Gewissen genommen. Wenn es eine Gedanken-Polizei gäbe, bekäme ich lebenslänglich.“


Gesellschaftliche Klassen, politischer Verrat, die bequemen Lügen der Technologie, die Freuden der Einsamkeit, Liebe, Reisen, Kater, die Küste, Zeitschriften, Postkarten, kurz: all die wichtigen Dinge. Nach 10 Jahren Karriere haben die Manic Street Preachers ein Album aufgenommen, dass vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, vor Zorn schnaubt und mit Zärtlichkeit und vor Stolz erstrahlt. Als einzig verbliebene Vertreter ihrer Generation sind sie immer noch auf der Suche, immer noch unbefriedigt, doch stets angetrieben und zielgerichtet. Genau wie Henry Moore kennen sie den Hunger und die Sehnsucht, die Ruhelosigkeit, die intellektuelle Neugier, die Hoffnung, die Wut, den Enthusiasmus, die Wunder und den Zorn und die Ablehnung der zweitklassigen Banalitäten der Zerstreuungen unserer Welt – all das unterscheidet das wirkliche Leben von der Leere und den Substituten.

10 Alben. Alle beim selben Label, mit demselben Manager, derselben Presse-Agentur. James und Nicky kennen sich, seit sie 5 Jahre alt sind. Ihre ersten Songs schrieben sie mit fünfzehn, als die Minenarbeiter streikten. Diese Art der Kontinuität und Konstanten wären den eigenwilligen, sarkastischen und unendlich unterhaltsamen Demagogen aus Blackwood mit ihren weißen Jeans, die 1990 Babycham tranken, sicherlich peinlich gewesen. Heute sind sie allerdings zufrieden mit dem, was sie sind, denn sie sind relevanter, belebender und aufregender denn je zuvor.

Stuart Maconie, Juli 2010

(Quelle: Sony Music, 31.8.2010)


FORMAT: CD


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