Man muss nur ein paar Dinge über Feist wissen, um sich voll und ganz in „The Reminder“ verlieben zu können: Denn sie ist weitaus mehr als das, was alle denken (eine Sängerin, die sich alleine ins Spotlight begibt, um ihre Balladen vorzutragen). In einem vergangenen Leben(-sabschnitt) war sie eine überaus wilde Teen-Queen aus Calgary, die sich in einer Punkband gehen ließ. Sie hat dafür gesorgt, dass eine Vielzahl schüchterner Indie-Typen ohnmächtig wurde, als sie mit ihrer Band By Divine Right harte Gitarrenriffs auf sie abfeuerte; als die besagten Jungs schließlich wieder bei Bewusstsein waren, versetzte sie ihnen gleich den nächsten Stoß: mit denjenigen Shout-Out-Einlagen, die sie bei der wegweisenden Über-Indie-Combo Broken Social Scene beisteuerte. Sie ist dickköpfig und stets akribisch, etwa wenn es um die Einstellungen des Equalizers an ihrer Anlage oder aber um das (Fine-)Tuning ihrer Gitarre geht. Manche haben in ihr überraschenderweise sogar eine Fashion-Ikone sehen wollen (wer hätte das gedacht!), dabei ist sie eigentlich eher ein Tomboy – und gänzlich ohne Make-up unterwegs. Auch ist sie durchaus in der Lage, einen bouncenden Foxtrott wie „Mushaboom“ zu trällern; einen Song, den selbst deine Großeltern liebend gern auf ihrem Victrola-Plattenspieler gehört hätten; aber gleichzeitig ist sie auch dabei, wenn es darum geht, surreale Handpuppen (aus Socken fabriziert) mit ihrer Electro-Trash-Kollegin Peaches in Berlin und anderswo zum Leben zu erwecken... Das inzwischen sagenumwobene Originaldemo („The Red Demos“) für „Let It Die“ und „The Reminder“ enthielt zudem die süßlichen Klänge einer Straßenbahn, die gerade vorbeirauschte. Und auf der Bühne kann sie in einem Moment noch die Solosängerin sein, die den kompletten Raum mit ihrer Gitarre ausfüllt, nur um im nächsten Augenblick eine vielköpfige Band von Brüdern am Mikrofon anzuführen...
All das (und mehr) kann man auf „The Reminder“ deutlich heraushören. So ist dieses Album in gewisser Weise „noch mehr Feist“, noch „feister“ als alles, was sie zuvor aufgenommen hat. Was nicht heißen soll, dass „Let It Die“ ein halbherziger Versuch oder eine Lüge war; ganz im Gegenteil: Die Richtung, die sie nunmehr eingeschlagen hat, zeichnet sich durch Kollaborationen und (weitschweifende) Klang-Experimente aus, um sich so, gemeinsam mit einem ihrer besten Freunde (Chilly Gonzales, der auch bei „The Reminder“ seine virtuosen Finger im Spiel hatte), auf bis dato unbekanntes Terrain zu begeben. Etliche Schichten ihres Sounds hat sie abgetragen und ummodelliert, um ein Experiment freizuschaufeln, das gänzlich anders ist als alles, was man von ihr kennt.
Natürlich hatte niemand mit demjenigen internationalen Erfolg gerechnet, den Feist ihr „Let It Die“-Album einbrachte – sie selbst schon gar nicht! Plötzlich bekam sie sogar Auszeichnungen. Ihr Name tauchte allerorts in den Jahresbestenlisten auf. Eifrige Mitläufer wurden von Festival-Showcases abgewiesen. Plötzlich war sie, ein Mädel, das außerhalb von Kanada mehr oder weniger unbekannt war, in den Airplay-Top-10 vertreten, und ihre Musik war in Supermärkten angekommen! Ihre Reaktion darauf? Sie tourte weiterhin durch die Welt. 33 Monate am Stück, wobei sie drei Kontinente bereiste und in ihren Bann zog. Unterwegs arbeitete sie an „The Reminder“, jener klanglichen Gedächtnisstütze, die mit jeder Station deutlichere Formen annahm...
Als sich das Tourleben schließlich abgenutzt hatte, landete sie in den La Frette-Studios: ein 200 Jahre alter Prachtbau in einem Randbezirk von Paris. Unsere Protagonistin suchte sich ihre Live-Band zusammen – Julian Brown, Bryden Baird und Jesse Baird –, und fragte Gonzales, Mocky und Jamie Lidell, ob sie mit ihr am neuen Feist-Sound arbeiten wollten. Sie kamen (natürlich) und füllten Ess- und Wohnzimmer mit einem Klavier, Vibraphonen, Orgeln, Gitarren, Verstärkern..., bauten dann zwei Schlagzeug-Sets vor den bunten Fenstern auf und verstreuten ihre unzähligen Mikrofone wie Mausefallen über den rustikalen Holzboden. Man kann Hunde auf den Tracks bellen hören, denn die Aufnahmen fanden stets spontan statt – zwischen Pausenapfel und einem ausgedehnten Spaziergang im Garten. Fast schon wie ausgelassene Kids, die zusammen ins Rock’n’roll-Sommerlager fahren, stellten Feist und ihre Kameraden „The Reminder“ zu weiten Teilen im Schlafanzug fertig. Völlig umgehauen von dem Gefühl, nach all den Tour-Monaten mal wieder einen relativ „festen Wohnsitz“ zu haben, stand Feist jeden Morgen schon ganz früh auf, um gemütlich-gefederte Schneeengel auf ihrer Bettdecke zu hinterlassen. Schlotternd sollte sie wiederholt beim Versuch scheitern, Vogelgezwitscher auf der steinernen Terrasse aufzunehmen, was jedes Mal von Verkehrsgeräuschen vereitelt wurde (Autos und Flugzeuge). (Später jedoch, bei einem weiteren Schnellschuss-Versuch, gelang es ihr, kanadische Vogelstimmen vor einem Studio in Toronto auf Tape zu bannen. Die unwissenden Vögel aus dem Stadtteil Danforth sind nun auf ihrer Folk-Ballade „The Park“ verewigt).
Und so nahmen die Songs einer nach dem anderen Form an –, bis Feist und Co. schließlich viel mehr geschafft hatten, als geplant. Ein ganzes Album war entstanden.
Da wäre z.B. „Brandy Alexander“, mit einer Tiefschlag-Melodie, die sich über einem nachdrücklichen Herzschlag aus Drum-Sounds entfaltet. Oder diejenige polternde Hommage an „Dusty In Memphis“, die in dem Teenage-Traum „1234“ mitschwingt. Gemeinsam mit Langzeit-Kollaborateur Gonzales schrieb sie den Song „The Limit To Your Love“, ein verhängnisvoll klingender Track, der mit deutlich-beseelten Klavier-Akkorden und Perkussions-Einlagen à la Mo Tucker dahinkriecht, während Feist sich kurzerhand in Nico verwandelt. Der Live-Favorit „Sea Lion Woman“, sonst berühmt in der Coverversion von Nina Simone, wird mit klingeltonähnlichen Synthie-Sounds in die Stratosphäre geschossen, um dann durch organisches Klatschen und einen Miniatur-Gospelchor wieder in unseren Breiten verankert zu werden. Auf dem schillernden und traurigen „The Water“ vermischt sich Feists einzigartige Stimme mit aufeinandergetürmten Klavier- und Vibraphonschichtungen, wobei sie eine Allegorie über stoische Berge, ein unbeholfenes wie gefährliches Meer und kleine Knochenhäufchen (die aus den Untiefen auftauchen) zum Besten gibt. „Intuition“ besticht mit fragilem Fingerpicking auf der Gitarre, wobei Feist Call-and-Response-Gesänge mit einer entfernten Menge austauscht.
Es ist verdammt schwer, sich dieser atemberaubenden Vielfalt und Tiefe zu entziehen, ja, es ist quasi schon vorprogrammiert, dass einem beim ersten Kontakt mit „The Reminder“ die sonst so standhafte Kinnlade herunterfällt. Man hört hier alle nur erdenklichen Facetten von Feist heraus – das Punk-Kid aus Calgary, das Indie-Postergirl aus Toronto, die im Pariser Exil lebende Musikerin, die den Klang von Kopfsteinpflaster genießt –, die sie völlig kompromisslos zu einem organischen Ganzen zusammenfügt.
Letztlich ist es einfach nur Feist, die ihre eigenen Fragen mit weiteren Fragen beantwortet, und damit genau darauf hört – wie sie es so treffend am Ende von „The Reminder“ formuliert –, „wie sich ihr Herz verhält“.