Sie spielt Geige wie andere Leute Gitarre. Quer vor dem Bauch, ohne den Bogen. Dass das ungewöhnlich ist, fällt ihr vermutlich gar nicht auf, es passt zu ihr. Graziella Schazad ist ein wandelnder Widerspruch. Eine klassisch ausgebildete Musikerin, die ihre von klein auf studierten Instrumente Klavier, Violine und Gitarre ganz in den Dienst ihrer Stimme stellt und ihre Songs gelegentlich vokalakrobatisch mit Beat-Box unterlegt. Eine Singer-Songwriterin, die Beastie Boys oder Jungle Brothers zu ihren Lieblingen zählt und die man, ganz gegen die Genre-Gewohnheiten, nie 90 Minuten am Stück mit akustischer Gitarre auf der Bühne sehen wird. Vermutlich würde ihr dann auch langweilig. Es steckt zu vieles in ihr, an Talenten, aber auch an Geschichten.
„Ich habe den Drang, auf der Bühne zu stehen. Ich mache das, seit ich denken kann, und ich will das unbedingt. Ich gehöre da hin.” Wenn Graziella Schazad das sagt, klingt es nicht anmaßend, eher fast ein wenig leise, ohne dabei jedoch an Überzeugungskraft zu verlieren. Sie ist einer dieser Menschen, denen man sofort sein Herz öffnen möchte: gewinnend freundlich, mit wachen Augen und offenen Ohren für sein Gegenüber. Eine aparte junge Frau, die sich nicht in den Mittelpunkt drängt und scheinbar trotzdem weiß, was sie will und kann. Zumindest auf den ersten Blick. Doch bei Graziella Schazad steckt immer mehr dahinter, als das Auge sieht. Etwa, wenn sie entwaffnend direkt sagt: „Ich halte mich und meine Sicht der Dinge für ziemlich naiv”, und laut darüber lacht – um dann sehr überlegt nachzuschieben: „Ich weiß nicht, woher dieser starke Wunsch kommt, im Mittelpunkt zu stehen und mit meiner Musik Erfolg zu haben – aber ich will es auch nicht wissen. Ich bin mir ziemlich sicher: Würde ich den Grund entdecken, würde ich die Musik sofort hinschmeißen.”
Das wäre ein Verlust. Die 26-Jährige hat die seltene Gabe, Ohrwürmer zu schreiben, die sich beim ersten Hören sanft in den Gehörgang schleichen und dort für lange Zeit verweilen – ohne je auch nur eine Sekunde zu nerven. Eine erste Kostprobe von Graziellas Können war ihr Song „Look At Me”, 2009 ein veritabler Sommerhit in Deutschland, Polen und der Schweiz. Irgendwie mädchenhaft, federleicht, bezaubernd – und irgendwie auch gerade nicht: Graziellas Stimme ist nicht einfach schön, sie ist eigen. Sie hat nicht die Fülle einer Soul-Diva, nicht die Energie einer Rockröhre, sie ist nicht so fröhlich und süß wie die anderer Singer-Songwriterinnen; die Stimme transportiert vor allem sehr subtil die Doppelbödigkeit und manchmal fast ausweglose Melancholie von Graziellas Texten. Denn in ihren tiefen, dunklen Augen liegen nicht nur Kraft und Bestimmtheit. Sondern auch das jeweilige Gegenteil. Wenn Graziella Schazad von ihrer Vergangenheit spricht, dann kann sie auf einmal ganz weit weg sein vom Hier und Jetzt. Und ihre zarte Gestalt erscheint dann nicht mehr nur eigenwillig elegant, sondern ganz sicher auch zerbrechlich.
I’m the day without the light
I’m a lighthouse in the night
Das Spiel der Gegensätze in Graziellas Leben beginnt schon mit ihrer Geburt: Ihr Vater ist Afghane, die Mutter Polin, ihr Vorname italienisch, der Geburtsort Berlin. Die weiteren Angehörigen sind über den halben Globus verstreut. Schwierige Familienverhältnisse für ein Kind, die ständigen Konflikte zu Hause sind Graziella noch immer sehr präsent. Aber oft ist sie auch selbst nicht zu Hause, in ihrer unsteten Kindheit ist Graziella viel unterwegs. New York, wo ein Teil ihrer Familie lebt, wird zu einer zweiten Heimat und Englisch zur zweiten Muttersprache. Sie kommt überall durch, doch diese Zeit hat Narben hinterlassen, ein tiefes Gefühl von Unsicherheit und Heimatlosigkeit.
Eine der wenigen Konstanten wird schnell die Musik, an die Graziella eher zufällig gerät. Schon im Alter von drei Jahren ist ihr sehnlichster Wunsch ein Klavier, nur ist das leider weder mit dem Geldbeutel noch mit den Nachbarn zu vereinbaren. Doch als Graziellas Mutter gerade für ihr Patenkind eine Spielzeuggitarre kaufen will, stößt sie auf den Aushang „Gitarre lernen ab drei” – und steckt ihre Tochter kurzerhand in den Gitarrenunterricht. Wie der Zufall so spielt, ist die Frau des Gitarrenlehrers ihrerseits Geigenlehrerin, und so kommt mit vier Jahren die Violine hinzu. Im Alter von neun gibt es endlich das lang ersehnte Klavier, und es folgen weitere Instrumente. Erst vor Kurzem eignete sich Graziella die Ukulele an, Djembe spielt sie ohnehin, Saxophon nur deshalb nicht mehr, weil sie sich durch zu hartnäckiges Üben eine chronische Entzündung der Sehnenscheiden zuzog.
Graziellas Talent wird früh erkannt und auf dem ehrwürdigen Berliner Bach-Gymnasium gefördert, einem Musikgymnasium mit ausgewachsener Aufnahmeprüfung, dessen Schüler parallel an der Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler studieren. Von nun an sind die Instrumente keine Spielerei mehr, sondern bedeuten vor allem eines: Druck. Dabei ist die Musik eigentlich Graziellas Weg, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, sich Träumen hinzugeben. „Meine Vision mit 13 war es, irgendwann einmal die Berliner Waldbühne zu füllen.” Und so stiehlt sie sich gemeinsam mit ihrer besten Freundin an konzertfreien Tagen immer wieder über Zäune und Mauern, um auf der großen Bühne Konzerte zu geben – und davon zu träumen, das menschenleere Rund sei voll jubelnder Menschen. Bis sie einmal erwischt werden. Dann beginnen die beiden, ihren Traum zu verwirklichen, bilden ein Duo und spielen, wo immer es sich anbietet. Am liebsten eigene Songs.
„Als ich das erste Mal einen Song geschrieben habe, hat es ,klick’ gemacht, das war für mich Erfüllung”, sagt Graziella rückblickend. „Heute weiß ich: Ich bin nicht zur klassischen Interpretin geboren. Es ist schon okay, mich über ein Instrument auszudrücken, aber wenn es ein anderer Komponist ist, der seine eigene Geschichte erzählen will, dann fühle ich mich oft fehl am Platz. Nur wenn ich mich selbst ausdrücken kann, bin ich in der Musik zu Hause.”
Die logische Konsequenz ist, das auf instrumentale Fertigkeiten konzentrierte Gymnasium zu schmeißen – und das tut sie. Mit 17, kurz vor dem Abi, nach harten Kämpfen mit ihren Eltern.
Doch auch das Leben als freischaffende Musikerin ist alles andere als ein Spaziergang. Nach drei wechselvollen Jahren steht Graziella kurz davor, aufzugeben. Doch die Resignation währt nur kurz, ohne Musik geht es einfach nicht. Also wagt sie den Neuanfang in einer anderen Stadt, in Hamburg. Doch dieser kostet Geld: Um ihren Traum finanzieren zu können, kellnert sie, jobbt in der Marktforschung und macht schließlich sogar eine Ausbildung zur Stewardess. Nach 26 Flügen ist erst einmal genug Geld beisammen für die Freiheit, nur noch Musik zu machen. Allein 2008 spielt Graziella über 70 Konzerte, die sie alle selbst organisiert. Darunter Jobs für den Lebensunterhalt genauso wie credible Gigs auf Song-Slams, Festivals oder in Clubs. Einen besonderen Stellenwert haben die Auftritte in Kinderheimen, Hospizen oder auch im Hochsicherheitstrakt von „Santa Fu”, der JVA Hamburg-Fuhlsbüttel.
„Bei Konzerten dreht sich oft vieles um Gagen und Bekanntheit, darum, dass einen möglichst viele Leute sehen und man im nächsten Monat seine Miete zahlen kann. Das ist auch in Ordnung, aber für mich bedeutet live spielen vor allem, Menschen zu berühren und selbst berührt zu werden. Am liebsten würde ich nur in Kinder- oder Asylantenheimen spielen. Ich weiß, dass ich die Welt nicht ändern kann, aber Musik kann zumindest Hoffnung geben, zum Träumen anregen. Und ohne Hoffnung, ohne Träume ist man tot.”
Graziellas Umtriebigkeit weckt das Interesse der Hamburger Szene, und das trägt Früchte: Als ihre heutige Plattenfirma lose bei ihr wegen eines Demo anfragt, packt sie entschlossen ihre Instrumente und macht sich mit Bus und Bahn auf den Weg – eine unpersönliche Studioaufnahme ist ihr zu unsicher, sie präsentiert sich lieber live. Während ihres Spontankonzerts in der Lounge des Musikkonzerns öffnen sich schnell alle Bürotüren der verwunderten Mitarbeiter. Wenig später hat Graziella den Plattenvertrag in der Tasche, ihre Single „Look at me” wird der erste Testballon. Und nach über einem Jahr intensiver Arbeit liegt nun auch das Debütalbum vor.
Looking just at me is looking right through me ...
Die Songs auf „Feel Who I Am” haben internationales Format, und zumindest das ist ausnahmsweise mal kein Widerspruch, sowohl mit Blick auf Graziellas Herkunft als auch auf die am Album beteiligten Co-Autoren: Einige Titel komponierte Graziella in Zusammenarbeit mit Songwritern wie Chris Braide, der unter anderem für James Morrison schreibt, dem eng mit Paolo Nutini verbandelten Duo Matty Benbrook und Jim Duguid oder der britischen Musiklegende Russ Ballard.
„Jeder von ihnen hatte unterschiedliche Wege und Kniffe, meine Musik zu bereichern”, so Graziella. „Gemein haben sie alle ein unglaubliches Wissen über Songs – und die Tatsache, dass sie völlig anders arbeiten als ich: Ich kann schreiben, nicht planen. Ein Song kündigt sich an wie eine Grippe, und irgendwann ist er da. Diesen Moment muss ich abpassen, bevor er vorbeizieht. Das fühlt sich an wie das Ruckeln eines Flugzeugs auf der Startbahn – ich muss es einfach starten lassen und kann nichts forcieren.”
Entstanden sind auf diese Weise ausnahmslos Ohrwürmer, mal ruhig, mal lebhaft, oft mit hörbarem Folk-Einschlag, manchmal mit souligen Anklängen. Gemeinsam mit ihren Produzenten Henrik Menzel und Tommy Peters hat Graziella daraus kleine Pop-Perlen geformt. Ihre Violine, ob gezupft oder gestrichen, zieht sich als Markenzeichen durch alle Titel. Entspannte Drums, Sitar- und Akkordeon-Klänge, Glockenspiel und Bläser ergänzen Graziellas instrumentale Vielfalt punktuell. Doch die gesamte Produktion unterstreicht vor allem sehr gefühlvoll die Melodiebögen und Texte, in denen Graziella ihr Innerstes nach außen kehrt. Bildreich, platitüdenfrei und umwerfend treffend formuliert. „Vielleicht ein Song von 40 handelt nicht von meinem Innenleben”, so Graziella, „es ist einfach das Thema, das raus will. Nur in Momenten, in denen ich Sicherheit in mir finde, kann ich auch mehr auf die Welt außerhalb schauen.”
Die Klavierballade „Leave Me Alone“ scheint nur wie ein gesungener Schlussstrich unter einer Beziehung, tatsächlich ist sie das Zwiegespräch mit einer inneren Stimme, einem nagenden Gedanken, der Graziella immer wieder übermannt.
Viele Songs sind eine Affirmation, eine Aufforderung Graziellas an sich selbst, eine Leuchtkugel, der sie folgen möchte. So wie Breathe and reboot, adressiert an sich selbst, an das Kind in ihr: „Ich bewundere Leute, die es schaffen, einfach glücklich ihr Leben zu leben. Ich kann das nicht, ich habe immer einen Fluchttrieb. Doch ich kann mich auch nicht ewig verstecken. Ich muss mir in manchen Situationen gut zureden. Und wenn nichts mehr geht: durchatmen. Neu starten.”
Doch Graziella kann durchaus auch gute Laune haben und positiv nach vorn schauen, das hört man Stücken wie Everybody an, einer schwungvollen, fast Bluegrass-artigen Nummer mit hymnenhaftem Refrain. Oder aber Take on me, der ersten Single ihres fertigen Albums – einem für Graziella ungewöhnlichen Stück, denn Coverversionen finden sich nur selten in ihrem Programm. „Der Stil des Originalsongs ist nicht meine Welt, und vermutlich gibt es 100 weitere Bearbeitungen, die nicht zu mir passen würden. Aber eine Version, die ich zufällig gehört habe, die hat mich berührt. Genau wie die Aussage des Songs, diese Doppeldeutigkeit aus ,nimm es mit mir auf’ und ,gib mich nicht auf’.” Dass die spontane Idee, dieses Stück einzuspielen, so gut funktioniert und ihr schließlich sogar eine hitverdächtige Single beschert, ist auch für Graziella eine Überraschung. Doch es passt einfach. Der Song klingt nicht mehr nach einem Cover, er ist wie ein Abbild von Graziella selbst: federleicht und trotzdem tiefgründig, ernsthaft und verschmitzt, relaxed und voller Spannung. Rastlos, aber auch zu Hause. Nichts dazwischen, sondern alles zugleich, und immer zu 100 Prozent. Für den Verstand mag das verrückt erscheinen. Aber es klingt nicht so.