Gegen Ende des Sommers, kurz bevor sie die Arbeiten zu ihrem zweiten Album aufnahm, setzte Laura Marling sich mit ihrem Produzenten Ethan Johns zusammen, um ihre Ziele und Vorstellungen für das Album zu besprechen. Zwei Dinge waren ihr dabei besonders wichtig: "Dieses Album soll mein Sprungbrett sein." Und: "This is England."
Tatsächlich ist "I Speak Because I Can" mit seinen zehn reifen, gehaltvollen und eleganten Songs ein Album, das den Schritt ins Erwachsenenalter markiert. Und zugleich besticht es durch seine markante, typisch englische Art. Trotz all der amerikanisch inspirierten Instrumentierung, trotz der Anleihen an Crosby, Stills, Nash & Young, Joni Mitchell, Neil Young und Leonard Cohen sind diese Songs keine schwachbrüstigen Interpretationen der klassischen Americana. Vielmehr hören wir Geschichten vom schneebedeckten England, von Brombeeren und kalten Nasen, hören Songs, die fest an einem bestimmten Ort verwurzelt sind. Es ist, als habe Marling sich in den Monaten seit dem Vorgängeralbum auf die Suche nach sich selbst begeben und habe sich entdeckt als eine durchweg englische, unbestreitbar weibliche und voll ausgereifte Musikerin, die ihresgleichen sucht.
Zur Erinnerung: Marling war gerade mal 17, als sie im Winter 2008 ihr Debütalbum "Alas, I Cannot Swim" veröffentlichte. Es brodelte vor Geschichten über vergangene Liebschaften, nächtliche Schrecken und Herzen, die verrinnen wie der Sand in einer Sanduhr. "Alas" war ein außergewöhnliches Album und bewies, dass Marling nicht nur eine reine, klare und ungewöhnlich schöne Stimme hat, sondern auch erstaunliches Songwritertalent besitzt, so dass man ihr zartes Alter kaum wahrhaben konnte. Das Folgewerk, das sie im Spätsommer 2009 in Peter Gabriels Real World Studios bei Bath und in den Londoner Eastcote Studios aufnahm, schwelgt in einer neuen Reife. Manchmal klingt Marlings Stimme ein wenig härter, etwas weltmüde, und ihre Texte sind direkter, die Themen durchaus düsterer.
Marling, die gesteht, viele der von Johns produzierten frühen Arbeiten hätten ihr Interesse an der Musik entfacht (zum Beispiel seine Aufnahmen von Ray LaMontagne, Kings Of Leon, Emmylou Harris und Sarabeth Tucek) hatte Johns Arbeitsweise schon lange bewundert - die Art, wie er Bandmaschinen einsetzt, seine unaufgeregten, traditionsverhafteten Produktionsmethoden.
Das live aufgenommene "Forgive Me, Hero" birgt Beiträge vieler Kollegen von Marling, darunter Pete Roe, Marcus Mumford, Ted Dwane, Tom Fiddle und Winston Marshall. Gemeinsam bieten sie Marlings lyrischer Introspektion einen standhaften musikalischen Kontrapunkt. "So sehr ich diese Jungs liebe, ich kriege sie einfach nicht unter Kontrolle, sie wollen schnelle, harte Musik spielen", erklärt sie. "Aber das ist es, was mir an dem Album gefällt: Ich kann mich immer wieder vollends gehen lassen und dann kommen sie und kicken mich in die Realität zurück."
Vielleicht ist es ein Zeichen von Marlings wachsender Reife, dass Weiblichkeit als Thema dieses Album wie ein roter Faden durchzieht. "Ich glaube, ich fühlte plötzlich das Gewicht dessen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, und wie wichtig es ist, sich damit auseinander zu setzen - das fand ich einfach sehr interessant," erklärt sie. Was sie inspirierte war "die sich wandelnde Rolle der Frau und der Idee von Weiblichkeit im Laufe der Geschichte."
Dementsprechend beruft sich das vorletzte Stück des Albums, "I Speak Because I Can", das dem Gesamtwerk seinen Namen lieh, auf die griechische Sage der Penelope, Frau des Odysseus. Marling erläutert ihren Ansatz: "Es war dieser wirklich sehr altmodische Gedanke von der Frau, die zuhause sitzt und darauf wartet, dass ihr Mann endlich heimkehrt - die Idee der Monogamie und der Rollenverteilung unter den Geschlechtern - das fand ich wirklich erstaunlich und sehr faszinierend. Ehrlich gesagt ist dies wahrscheinlich das Prätentiöseste, was ich überhaupt über das Album sagen könnte."
Der Song "What He Wrote" inspirierte sich in Teilen an alten Liebesbriefen und Tagebucheinträgen aus dem Krieg, die Marling als Abdruck in einer Zeitung entdeckte. "Ich fand das herrlich: Wie sie geschrieben haben damals, wie sie ihre Leidenschaft in Worte fassten. Man konnte an den Briefen wirklich spüren, wie sehr sie sich nach einander sehnten." Ein Tagebucheintrag hatte es ihr besonders angetan: "Es handelte davon, wie er versucht, los zu lassen, tatsächlich physisch loslässt, wie es ihm nicht wirklich gelingt und er Schritt für Schritt versteinert. Und irgendwie denke ich, dass das sehr gut das beschreibt, was passiert, wenn man sich trennt: Man kann einfach nicht loslassen, wie sehr man sich auch bemüht. Und ich fand das einfach wunderschön, eine Art Metapher für das Verzeihen, dafür, wie man Dinge freigeben muss, oder wie man sich einfach bestimmten Dingen stellen muss, weil es anders nicht geht."
Neben solch eher allgemeingültigen Themen wendet "I Speak Because I Can" sich aber auch an persönlichere Themenbereiche. In einem Song mit dem faszinierenden Titel "Alpha Shallows" etwa, den Marling folgendermaßen umschreibt: "Das ist eine Art Codename, denn es handelt sich um etwas sehr Persönliches. Das heißt nicht, dass die anderen Songs, die ich schreibe, nicht persönlich sind, im Gegenteil, aber meist halte ich einen gewissen Sicherheitsabstand. Ich glaube, als ich den Song schrieb hatte ich Angst, er könne zu pathetisch klingen. Also beschrieb ich gewisse Leute in meinem Tagebuch als 'oberflächliche Alphatierchen' und gab ihnen alberne Codenamen ... Ich kann nur hoffen, dass niemand jemals mein Tagebuch in die Finger kriegt!" Marling hat ihrem jüngeren Ich jene offensichtlich persönlichen Songs verziehen, die auf ihren ersten EPs und auch auf ihrem Debütalbum zu finden sind. "Die ersten Stücke, die man schreibt, handeln natürlich immer von einem selbst. Der Trick ist, die richtige Balance hinzukriegen: Einerseits hat man persönliche Erfahrungen, andererseits muss man diese in einen bedeutungsvollen Song umwandeln, bei dem man sich aber auch etwas schützt und nicht gleich alles, das Innerste, von sich preisgibt."
"Goodbye England" ist zweifellos einer der Höhepunkte des Albums und zugleich eines der intimeren Stücke: ein Kreisen der Gedanken über Liebe und Unabhängigkeit, aber auch eine sehnsuchtsvolle Liebeserklärung an das ländliche England, wie man an folgender Textzeile erkennt: "And I never love England more than when covered in snow." "Dieses Album reflektiert sehr viel von meiner Kindheit", erläutert Marling. "Ich wuchs auf dem Lande auf und ich finde, das ländliche England schimmert auf dem Album allerorten durch. Ich fühle mich sehr englisch. Ich sehe ja auch offensichtlich typisch englisch aus. Wenn ich unterwegs bin auf Tour, vor allem im Winter, dann sehne ich mich nach Hause, dann möchte ich wieder in dem Haus leben, in dem ich aufwuchs, ein Bauernhof mit offenem Kamin."
Sehr gut kann sie sich noch daran erinnern, wie sie als Kind mit ihrem Vater zur Kirche spazierte. "Ich erinnere mich, wie mein Papa sagte: 'Bitte sorge dafür, dass ich noch einmal hierher komme, bevor ich sterbe.' Ich muss damals etwa neun Jahre alt gewesen sein und ich weiß noch, wie ich dachte: 'Was für ein grauenhafter Gedanke!' Aber jetzt ist es so, dass auch ich mir wünsche, noch einmal vor meinem Tod dort hinzukommen. Ich bin stark mit England verwurzelt und weil ich hier aufwuchs rührt mich die Schönheit der englischen Landschaft viel mehr als jede andere Schönheit. Und ich glaube, dass das einen Menschen sehr stark prägt - wo man herkommt. Natürlich kann man sich an alles gewöhnen, aber es ist der englische Wind, der mein Inneres erschüttert!"
Marling erinnert sich, wie sie vor einigen Jahren von einer erschreckenden Angst vor dem Tod gepackt wurde. Auch dieses Thema taucht auf dem Album immer wieder auf. "Ich glaube nicht, dass man diese Angst vor dem Tod jemals wirklich überwinden kann. Aber in meinem Fall war es so, dass ich richtige Panikanfälle hatte, die ich nicht mehr unter Kontrolle kriegte, also musste ich mich dem stellen. Die Angst vor dem Tod ist gekoppelt mit einer Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit, und ich dachte, na ja, was auch immer passiert, ich kann beruhigt sein, weil ich doch einige Sachen geleistet habe. Es geht gar nicht darum, berühmt zu sein, es geht eher darum, jemand anderem etwas zu bedeuten. Jemandem etwas zu bedeuten heißt für mich, dass man aktiv bemüht ist, sein Leben so zu gestalten, dass es positive Auswirkungen auf andere Menschen hat. Dass man den anderen ein bisschen den Tag versüßt. Du musst ja nicht die Probleme anderer Menschen lösen, aber du kannst ihnen helfen, dass sie sich ein wenig sicherer fühlen."