L'entredeux [Pop]
WEBSITE: www.mariannedissard.com
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Chanson aus der Wüste: Americana trifft französische Poesie -
Eine außergewöhnliche Lebensgeschichte führt zu einem außergewöhnlich schönen Album: “L’entredeux” ist das spektakuläre Debüt der Wahlamerikanerin und gebürtigen Französin Marianne Dissard. Aufgenommen in den Wavelab-Studios ihrer heutigen Heimatstadt Tucson, Arizona. Produziert von Joey Burns, einem der beiden Masterminds von Calexico, und aufgenommen mit einigen der besten Musiker, die das alternative Amerika zu bieten hat.
Der Titel nimmt es vorweg: “L’entredeux” pendelt geografisch und musikalisch zwischen den Welten. Chanson und Americana vereinen sich mitten in der Wüste zu einer ungewöhnlichen und facettenreichen Mischung, die von der ersten bis zur letzten Minute fasziniert. Nennen wir es Desert Chanson.
Alles begann in Phoenix, Arizona. Die berufliche Versetzung ihres Vaters in die USA hatte Marianne Dissard aus ihrer französischen Heimat zunächst hierhin vertrieben. Angeödet von der US-Amerikanischen Suburbia beschließt die damals 20jährige wenig später, nach Hollywood zu gehen. In der allerletzten Nacht vor ihrem Aufbruch spielen Giant Sand in der Stadt. Dissard will sich noch einmal einen feucht-fröhlichen Abschied gönnen und geht zur Show. Am Ende lernt sie Giant Sand-Chef Howe Gelb kennen, der ihr anbietet, in seinem Hollywood-Apartment zur Untermiete zu wohnen. In LA beginnt Marianne Dissard zunächst ein Filmstudium. Zwischendurch verbringt sie wieder Zeit in Frankreich und arbeitet dort an eigenen Filmprojekten. 1994 reist Dissard nach Tucson, um eine Dokumentation mit dem Titel “Drunken Bees” über Giant Sand zu drehen. Sie bleibt dort hängen und taucht immer mehr in die Musikszene Arizonas ein. Als Joey Burns – Ex-Mitglied von Giant Sand und Mitbegründer von Calexico – nach Inspirationen zu einem Song über Western-Klischees sucht, erzählt die Cineastin ihm von ihrem Lieblingswestern “The Ballad Of Cable Hogue”. Dies markiert den Beginn einer wunderbaren Künstlerfreundschaft. Erstes Resultat: “The Ballad Of Cable Hogue” wird der größte Hit des Calexico-Albums “Hot Rail” und Marianne Dissard als Duett-Partnerin gibt ein Aufsehen erregendes Gesangsdebüt.
Dissards musikalische Ambitionen beschränken sich trotz ihres Calexico-Gastauftritts zunächst aufs Texten. Sie arbeitet als Songwriterin für ihren Ehemann Naïm Amor und dessen Amor Belhom Duo, für das Calexico-Nebenprojekt ABBC, für Giant Sand und Françoiz Breut. Um eine Phase intensiven Liebeskummers zu verarbeiten beginnt sie schließlich mit der Arbeit an eigenen, sehr persönlichen Texten. Da sie selbst keine Musik komponiert, textet sie kurzerhand die Lieblingsstücke aus ihrer Plattensammlung um. Zu jener Zeit trifft sie Joey Burns wieder, der sie überredet, ein komplettes Album mit ihr aufzunehmen. Es konnte wohl kaum einen besseren Zeitpunkt dafür geben. Burns schreibt die Musik zu ihren poetisch kraftvollen Liebesgedichten – eine ideale Verbindung, wie sich herausstellte. Die ersten Demos erscheinen als digitale Downloads und zum Teil auf einer 7-Inch-EP.
Von 2006 bis 2008 arbeiten Dissard und Burns – immer wieder durch Tourneen von Calexico unterbrochen – an den Aufnahmen für “L’entredeux” und schleifen die Songs von rohen Diamanten zu Brillianten. John Convertino von Calexico spielt Schlagzeug, Naïm Amor (der auch die Musik zu drei Stücken schrieb) Gitarre, Rob Burger (Tin Hat Trio) steuert von New York aus Klavier und Akkordeon bei, und die Mundharmonika spielt Willie Nelsons langjähriger Weggefährte Mickey Raphael. Eine illustre Runde, zu der sich zahlreiche Background-Sänger/innen und Streicher gesellen. Doch Vorsicht: “L’entredeux” ist nicht einfach ein neues Calexico-Album mit Gastsängerin – auch wenn die Calexico-Fangemeinde ihre helle Freude daran haben dürfte. Der Aufwand und die Akribie, mit der Dissard und Burns ihr gemeinsames Projekt verfolgten, hat in der Hitze Arizonas vielmehr einen eigenen musikalischen Entwurf hervorgebracht: Es sind Songs/Chansons entstanden, die von der enormen poetischen Strahlkraft ihrer Autorin leben, die – ganz egal, ob man die Sprache versteht – ein hohes Maß an Leidenschaft und Sinnlichkeit transportieren.
Dieses Kunststück gelingt auch deshalb so gut, weil Dissard seit ihren ersten Gastspielen als Background-Sängerin und Duettpartnerin ihre Stimme weiterformte, bis ihr faszinierendes Timbre auch technisch zur Perfektion reifte. Marianne Dissard gelingt es auf einzigartige Weise, Ihren Gesang zugleich kräftig und zurückgenommen zu modulieren, beinahe so, als läge ein feiner Sandstaub über ihrem Vortrag – Desert Chanson eben ...
Der Umstand, dass ihr erstes Publikum die Texte nicht sofort verstand, erlaubte Marianne Dissard, persönlicher zu werden, als sie es sich in ihrem Heimatland getraut hätte. So sind ihre Lieder die
authentischen Spiegelungen dramatischer Liebesschmerzen wie im Abschiedslied “Cayenne” und “Trop exprès”, einem Song über den ewigen Zyklus von Liebe und Trennung. Doch nicht immer geht es tragisch zu: “Merci de rien de tout” ist eine Ode an One-Night-Stands, “Les Draps Sourds” gar ein absurd-komisches Stück über eine Liebesnacht, bei der ständig Freunde und Haustiere im Schlafzimmer auftauchen (was die Liebenden nicht am Weitermachen hindert). Und bei “Confettis” lässt Dissard Papierschnitzel regnen, die einmal Ehedokumente und Liebesbriefe waren. In Joey Burns hat Marianne Dissard den Partner gefunden, der ihre Texte kongenial vertont. Auf “L’entredeux” zeigt er sein ganzes Können als Arrangeur, Songwriter und Multiinstrumentalist. Auch wenn in den zwei Versionen von “Les Draps Sourds” mal Swing und mal Walzer durchscheint, “Cayenne” ein gefühlvoller Folksong ist, “Le Lendemain” eine atmosphärische Streicher-Ballade oder “Confettis” Gitarren-Pop bester R.E.M.-Prägung – Dissard gelingt es, eine gänzlich eigene, neue Welt jenseits der Genregrenzen zu erschaffen.
(Quelle: Groove Attack, Aug. 2008)
FORMAT: CD
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