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„Weiter draußen“ ist meine vierte Platte, und ich bin spät dran damit. Fünf Jahre sind seit der Veröffentlichung der Letzten vergangen. Dafür ist die Neue randvoll: 70 Minuten Musik und Text. Es ist aber kein Album geworden im Sinne von: Ich hab genügend Songs zusammen – aufgenommen & fertig! 18 Stücke, zehn ausgewachsene und 8 Miniaturen, die zusammen mehr darstellen als eine Ansammlung von Liedern auf einem Speichermedium. Konzeptalbum? – Meinetwegen! Jedenfalls sind die Stücke auf gewisse Art miteinander verschraubt und verflochten, so dass z.B. spätere Tracks einzelne Elemente, Bilder und Motive, musikalische wie lyrische, aus vorhergehenden wieder aufnehmen oder von anderer Seite beleuchten, so dass das Album als Ganzes wirkt wie ein aus diversen Einzelszenen montiertes Gesellschaftspanorama. Die von mir wie Bindemittel dabei eingesetzten Miniaturen werfen Streiflichter, zumeist auf die sozialen Zonen der Ausgrenzung, die Lebensbedingungen der auf verschiedene Art und Weise hier und heute Abgehängten. Wobei die prekären Ausschnitte ja nicht etwa Entgleisungen darstellen, sondern vielmehr wesentliche Bestandteile einer Herrschaftsform sind, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt. Dass hierzu längst auch die angehenden jungen Akademiker zählen, besinge ich in der „Weißmacherballade #2“. Textlich eine Bezugnahme auf die „Ballade von den Weißmachern und was mit ihnen geschehen muss“ von Franz Josef Degenhardt anno 1968. Rockmusikalisch irgendwo zwischen Ton Steine Scherben, Tokio Hotel und Tocotronic.
Die kalte und geschäftsmäßig-rassistische Brutalität, die bei der Verteidigung der noch gepolsterten Gewinnergegenden gegen die Bewohner der Elendszonen exekutiert wird, beschreibe ich in „Die Tötung“, der Geschichte eines afrikanischen Einwanderers, der „den
Fahrstuhl ins Ghetto“ nimmt und kurz darauf, bei seiner Abschiebung, zu Tode kommt. Ein Topical Song im Stile von Dylans „The Lonesome Death of Hattie Carroll“, wenn auch hier kein realer Fall im dokumentarischen Sinne zugrunde liegt. Musik: Off-Beat-A-Gitarre zu
Djembe und akustischem Reggae-Bass.
Wie das Elend überwunden und eine gerechtere Gesellschaft aufgebaut werden kann, dazu findet sich auf der Platte zwar nur mittelbar, dafür aber kenntlich, ein Vorschlag, nämlich in der Revolutionsmoritat zur E-Gitarre solo mit dem Titel „1476“. Die hat Leben und Wirken des Hans Böhm aus Niklashausen, auch Pfeiferhänslein genannt, zum Thema, der An- und Wortführer einer der frühen antifeudalen Erhebungen war, die vor etwa 500 Jahren dem großen Bauernkrieg vorhergingen.
Der Titelsong „Weiter draußen“ dagegen ist eher ein Selbstportrait zu geloopten, funky Gitarrenlicks und rudimentären Bass- und Drum-Figuren. Wobei natürlich – frei nach Aristoteles’ Poetik, sag ich mal – es nicht Aufgabe des Dichters ist, mitzuteilen, was real geschieht, sondern vielmehr, was nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit geschehen könnte. In diesem Sinne ist übrigens auch der Text der 8-minütigen Talking-Blues-Ballade „Platzverweis“ zu verstehen. Ein folkrock-musikalisches Road-Movie in kleiner Straßen-Combo-Besetzung.
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts haben sich beträchtliche Teile der alten Widerstandskräfte und der kulturellen Opposition aus dem Geist von 1968 in die neoliberale Kapitalismus-Restauration eingeschrieben. Durch die dabei erforderlichen enormen Anpassungsanstrengungen hat sich bei vielen ein mächtiger innerer Druck angestaut. Im 13-minütigen Schluss-Song „Möge die Macht“ bricht sich dieser stellvertretend Bahn. Es ist ein klassisches Rollenlied; der weihnachtsabendliche Rundumschlag eines Besserwissers und -verdieners aus dem ökolibertären Überbau. Musik: Drum-Loop zur La-Bamba-Kadenz, Akustik-Bass, Darabouka und in den Refrains jeweils eine Reminiszenz an 40 Jahre Post-68-Gitarrenrock.
Aber Schluss mit der Waschzettel-Anpreisung. Die Platte zu Ende anhören und eine Meinung dazu bilden muss sich der Rezensent schließlich selbst. Dabei viel Spaß!
Ich zähle meine Musik zu dem Genre, das die Anglo-Amerikaner „Singer-Songwriter“ nennen und das bei uns unter „Liedermacherei“ läuft. Natürlich mache ich politische Lieder – was auch sonst. Ich schreibe und singe ja von mir und Gott und der Welt und wie das alles zusammenhängt. Im landläufigen TV-Talk-Sinne aber ist meine Musik absolut unpolitisch: Weder die Pendlerpauschale noch die Föderalismusreform werden von mir auch nur im Ansatz textlich oder musikalisch behandelt. Ich bediene mich aus dem musikalischen Material der zeitgenössischen U-Musik. Die verschiedenen Stilrichtungen benutze ich dabei für meine Zwecke. Das verdeutliche ich, indem ich ihnen ihre musikalischen Sättigungsbeilagen entziehe. Der dabei mitunter entstehende musikalische Verfremdungseffekt gefällt mir. Ich spiele außerdem gut Gitarre und – nicht so gut, aber effektiv – Melodica.
Geboren 1964, wurde ich in den Siebzigern und frühen Achtzigern entscheidend musikalisch sozialisiert, bin also mit Folk, Rock, Punk, Wave, Reggae usw. groß geworden, aber auch mit den Liedern meines Vaters Franz Josef Degenhardt sowie dem kulturellen Umfeld der linken und linksradikalen Szenen dieser Jahre. Mit meinem Vater arbeite ich auch seit vielen Jahren als Arrangeur und Gitarrist zusammen und habe seit 1987 auf sämtlichen seiner Alben und diversen Tourneen mitgewirkt. Mein erstes eigenes Album mit dem Titel „Brot und Kuchen“ erschien 1997, das zweite, „Dekoholic“, im Jahr 2000 und „Briefe aus der Ebene“ 2003. Die neue Platte „Weiter draußen“ erscheint am 26. September 2008.
(Quelle: Kai Degenhardt, Plattenbau, 2008)
FORMAT: CD
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