Italienischer Beitrag beim Eurovision Song Contest in Düsseldorf am 14.5.2011! Raphael Gualazzi mit der Single „Madness of Love”.
Raphael Gualazzi hat beim San Remo Festival in diesem Jahr alle möglichen Preise abgeräumt: Nachwuchs-, Medien- und Kritiker Award, Publikumspreis und Preis für die beste Performance. Grund genug für die Verantwortlichen ihn für Italien beim Eurovision Song Contest ins Rennen zu schicken.
Am Anfang waren die großen Gefühle – Leidenschaft und Sehnsucht. Und die Aussicht, den Gefühlen einen Ausdruck, eine Form geben zu können – Musik. Inzwischen ist Raphael Gualazzi nicht mehr nur der Meinung, dass es kein besseres Vehikel zum Transportieren großer Gefühle gibt als Musik. Er weiß es nach knapp 15 Jahren feinmotorischer Annäherung des Jazz an die italienische Liedform Canzone einfach. Anderthalb Jahrzehnte lang arbeitete der heute 29-Jährige auf die musikalische Vision hin, die sich mit seinem neuen Album erfüllt, das treffenderweise den Titel "Reality And Fantasy" trägt.
Wohl wissend, dass nur bereits Gesehenes oder Gehörtes fantasierbar ist, verweist Raphael Gualazzi auf den musikalischen Kontext des Jahres, in dem das Piano seine lebenslange Liebe wurde. 1991, als ganz Europa Melodien gegen Eurodance-Beats eintauschte, entdeckte er im Alter von neun Jahren nicht nur die Harmonienvielfalt des Pianos. Der Internationalismus, der das Straßenbild von Urbino, der Stadt prägte, die nur einen Steinschlag von seinem norditalienischen Heimatdorf entfernt liegt, fütterte die Gedankenwelten vom jungen Raphael mit fremden, faszinierenden Tönen. Die Studenten der weltberühmten Universität von Urbino, eine der ältesten Unis Italiens, brachten neben kunsthistorischem Wissensdrang, musikalische Feinheiten aus ihren jeweiligen Heimatländern nach Italien. Georgia und New Orleans befanden sich für den jungen, musikhungrigen Raphael Gualazzi aus der Region um Florenz folglich nicht auf einem anderen Kontinent, sondern in den Plattensammlungen der Kunststudenten aus der Nachbarschaft.
Das Feuer für Soul, Blues und den Ragtime-Klavierstil war entfacht. Die Leidenschaft, die gefühlt schon seit früher Kindheit in ihm loderte, hatte ihren Bestimmungsort gefunden. „Leidenschaft ist schwer zu beschreiben“, wagt Raphael Gualazzi einen Erklärungsversuch für den epischen Platz, den Musik in seinem Leben einnimmt. Er wirkt mit seinem jungenhaft-charmanten Blick ein bisschen scheu. Sobald seine Finger aber die Tasten eines Pianos in Besitz nehmen, wird aus dem Introvertierten ein bedingungslos extrovertierter Charakter. Die Verwegenheit, die sein Dreitagebart suggeriert, wird zur Evidenz, wenn seine Stimme die tiefen Gefühle seiner Seele offenbart.
Glaubt man ihn bis hierhin durchschaut zu haben, überrascht er im nächsten Moment mit den höchsten Höhen von Falsettgesang, scattet, als ob der Leibhaftige hinter seiner Seele her wäre. All das ist nicht die Form eines wohlgetrimmten Images, sondern direkter Ausdruck einer Künstlerpersönlichkeit, die ihre volle Charaktervielfalt lebt. Seine Ergebenheit für die Welt der Harmonien und Töne erklärt Gualazzi mit einer Form von positiv motivierter Besessenheit. „Wenn ich für etwas oder jemanden brenne, das oder den ich liebe, verliert Zeit ihre Relevanz. Dann stelle ich manchmal fest, wie schnell drei Tage und Nächte ohne Schlaf vergehen können. Es ist eine seltsame, fast schon höhere Kraft und Energie, die mich für keinen Augenblick unaufmerksam sein lässt und mir alles abverlangt.“ Die Kraft auf der Reality and Fantasy fußt, muss vieler solcher Momente entsprungen sein.
Jazz ist für Raphael Gualazzi keine Weltanschauung, sondern gelebte Realität, die Form von Ausdruck, auf der alles basiert, was heute als Popmusik bezeichnet wird. Jazz ist für ihn aber auch ein Freifahrtschein zu all jenen Musikspielweisen, die beseelten Ausdruck besitzen. SeinJazz klingt nicht wie Fundamentalismus, sondern wie vor Lebenslust überschäumender Modernismus. Es macht schlicht Spaß, ihm beim musikalischen Lustwandeln an einem heißen, sonnigen Tag zwischen Detroit, Urbino und New Orleans zu lauschen.
Zweifellos ist es unmöglich, "Reality And Fantasy" zu hören, ohne die Anmutung von Stevie Wonder zu spüren. Dessen „Music Of My Mind“-Phase wird von Raphael Gualazzi in „Scandalize Me“ aufgegriffen und ins Jahr 2011 geführt. Der Opener, „Icarus“ legt mit seinem warmen, einladenden Uptempo-Refrain das Fundament für Ragtime, Duke Ellington, Fats Walter, Motown-Soul, den frühen Funk-Scat von Johnny „Guitar“ Watson, frühlinghaft-lebenslustige Pianoläufe und die ruhigen Momente, aus denen auch Norah Jones und Diana Krall schon Kraft zum Weltruhm schöpften.
„Ragtime-Pianoläufe sind so eng mit der englischen Sprache verbunden, dass ich sie nicht krampfhaft in ein italienisches Gesangsgewand pressen wollte“, erklärt Gualazzi seine Affinität zur englischen Gesangssprache. Wenn er sie aufbricht, greifen amerikanische und italienische Song- und Canzone-Traditionen, wie in „Calda Estate (Dove Sei)“ und „Saro Sarai“ ineinander, und machen aus ihrem Interpreten und Komponisten das lange gesuchte Bindeglied zwischen afroamerikanischer und italienischer Popkultur. Zwischendrin steht mit „Madness Of Love“ der Song aus Gualazzis Feder, mit dem er sich im Mai dem gesamteuropäischen TV-Publikum beim diesjährigen Eurovision Songcontest in Düsseldorf präsentieren wird, bevor das Piano-Crescendo „Caravan“ ein Album beschließt, das wohltuend frei ist von althergebrachten Italo-Klischees.
Ob Raphael Gualazzi gerade wegen seiner modernen Musikauffassung, die er als Brückenbau zwischen Tradition und Zukunft versteht, von seinen Landsleuten geliebt wird? Beim diesjährigen San Remo-Festival, das 14 Millionen Italiener vor den Bildschirmen bannte, räumte er gleich vier der begehrten Preise ab: den Nachwuchs-Preis, den Medien- und Kritiker-Award, den Publikumspreis und den Preis für die beste Performance während des San Remo-Wettbewerbs.
„Behind The Sunrise“, die erste Single für den frankofonen Teil der Welt, bescherte ihm im März 2011 den Spitzenplatz der französischen iTunes-Charts. Es scheint, als ob sich die ganze Welt bald dem überaus genügsamen Musiker öffnen will. "Reality And Fantasy" liefert mehr als ein Dutzend guter, songgewordener Gründe dafür, dem überbordenden Talent Raphael Gualazzi Gehör zu schenken. Er muss keine Hits fabrizieren, um welche landen zu können. Er braucht auch keine Wettbewerbe, die er scheinbar mühelos gewinnt, und erst recht keine Skandale, um sich eine treue Anhängerschaft von Hipsters und Song- und Jazzliebhabern zu erspielen.
Ob man ihn als „italienischen Ray Charles“ bezeichnen dürfe, wurde er kürzlich gefragt. Er fand die Andeutung in der Frage schmeichelhaft, aber auch komisch. Zu recht, weil alles schon da war – Raphael Gualazzi nicht.