Neuland [Pop]
WEBSITE: www.annakatharina-neuland.de
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Das große musikalische Herz von Anna Katharina Kränzlein hat zwei Kammern. Mindestens. In der einen logiert die Klassik. In der anderen tobt der Rock. Dazwischen hat die Geigerin eine Tür entdeckt. Und die stößt sie immer weiter auf.
So wie beim „Kunststück“ - Konzert 2005 im ausverkauften Münchner Circus-Krone-Bau, für welches sie maßgeblich die Orchesterarrangements komponierte. Oben Klassik. Unten Rock. (Eine räumliche Trennung, keine zeitliche, und keine Wertung.) Dazwischen eine Treppe. Über die Stufen flitzt die junge Frau im dunklen, schulterfreien Abendkleid hinauf und herab, die Geige am Hals gepackt. Oben gibt sie mit strengem Blick den Ton an, im Puchheimer Jugendorchester, in dem sie jahrelang als Konzertmeisterin wirkte und Preise auf internationalen Festivals gewann. Dann spurtet sie hinunter zur Folkrockgruppe Schandmaul, mit der sie es bis in die deutschen Album – Top - Ten geschafft hat, wirbelt herum, schüttelt die Lockenmähne, geigt furios, flirtet neckend mit ihrer Band-Familie. Wenn sie zwischendurch einen Blick auf die Zweieinhalbtausend im Saal wirft, sieht sie freudestrahlende, hüpfende, jubelnde, laute Menschen.
So ausgelassen kennt die 26-Jährige ihre Rockfans. So hätte sie gerne auch die Klassikliebhaber. „Aber die sitzen immer nur steif da“, sagt sie, „100 Augenpaare, die mir auf die Finger starren.“ Das wird Anna Katharina nun mit ihrem ersten Soloprojekt „Neuland“ ändern: lockern, entstauben, ankurbeln, aufmuntern. Und gleichzeitig der Rock-Fraktion die „Oh Gott, hoffentlich schlaf ich da nicht ein“ - Angst vor der Klassik austreiben. Auf ihrer „Road to Joy“ ins „Neuland“ haben sie Drummerlegende Curt Cress (Freddy Mercury, Tina Turner, Klaus Doldingers Passport, Udo Lindenberg) und die beiden Schandmaul-Musiker Matthias Richter (Bass) und Thomas Lindner (Produktion) begleitet.
Anna Katharina ist, anders als die meisten Jugendlichen, mit der ernst genannten Musik groß geworden. Die Münchnerin hat in beinahe 20 Jahren Geigen-, Flöten-, Klavier- und Gesangsunterricht, in denen sie acht Mal bei „Jugend musiziert“ gewann (einmal als Bundessiegerin), „die Genialität der schönen Melodien und Harmoniefolgen“ lieben gelernt. Auch dank ihrer Professoren als Jungstudentin am Richard-Strauß-Konservatorium in München, an den Hochschulen für Musik in Saarbrücken (Ulrike Dierick) und Würzburg (Max Speermann), bei Meisterkursen in Salzburg (Helmut Zehetmaier) und Warschau (Piotr Reichert); und dank ihres Zusammenspiels in Orchestern mit Größen wie Maxim Vengerov, Max Pommer und Michael Niesemann.
Aber das sind schon wieder so ehrfurchtsgebietende Meister. Dabei fing „Neuland“ mit einem Mann namens Reggie Worthy an, dem Bassisten des Liedermacher-Unikums Stoppok. Die beiden besuchten 2001 ein Schandmaul-Konzert. Nachher reichte Worthy Anna Katharina Notenblätter in den Tourbus: Er übe seit Jahren dieses Stück, ob sie sich auch schon damit beschäftigt habe, wollte er wissen. Es war Camille Saint-Saens „Introduction et Rondo capriccioso, op. 28“. Anna Katharina stutzte: „Ein geniales, aber hammerschweres Geigenstück“, damals zu mächtig für sie - „und der spielt es auf dem E-Bass?!“ So wurden durch die Tür in ihrem Herzen schon einmal die Rockinstrumente in die Klassikkammer gereicht.
Mit dem Saint-Sans-Werk hat Anna Katharina jüngst bei der Diplomprüfung brilliert. Sie hat es auch auf „Neuland“ mitgenommen – dies und neben eigenen Kompositionen auch vier weitere „Lieblingsklassiker“, die man so noch nie gehört hat. Das fängt an bei Vittorio Montis „Czardas“, den jeder kennt und mag. Das ungarische Geigenstück überhaupt. Anna Katharina hat damit schon auf Geburtstagen, Hochzeiten, der Abiturfeier und am Lagerfeuer Herzschmerz-Tränen fließen lassen. Nun spielte sie die alte Melodie auf Band, ließ sie auf Schleife laufen, dachte sich eine eigenwillige zweite Geigenstimme und eine Bratschenstimme dazu aus und reichte ihre Tonspuren an Schlagzeuger Cress und Bassist Richter weiter, die wiederum furiose Ideen dazu entwickelten. So in etwa machten sie es bei allen neun Stücken.
Den „gewaltigen Strom der Emotionen“, den die klassische Musik bei Anna Katharina auslöst, mischen sie gehörig auf. Sie lassen den Gefühlsfluss über felsigem Rockgrund zum Wildwasser aufbrausen, jagen auf funkigem Sog dahin, strudeln aus der Tiefe dunkle Jazz-Harmonien nach oben, schaukeln und swingen fröhlich auf Folk-Wellen, und manchmal folgt jeder seinem ganz eigenen Lauf, bis am Ende alle wieder zusammenzuströmen. Im traurigen ruhigen Teil des fast zehn Minuten langen „Introduction et Rondo capriccioso, op. 28“ schmiegen sich nur Geige und Bratsche tänzerisch aneinander, bei den stolzierenden Tutti-Parts lassen es bis zu sieben Geigen-, drei Bratschen- und mehrere Bass- und Drumspuren mit orchestraler Wucht krachen. Im barocken „La Follia“ lässt Anna Katharina wie Arcangelo Corelli alles um das wiederkehrende Harmonieschema kreisen. Matthias Richter setzt ihren Variationen, die ein bisschen Mozart und Vivaldi ins Spiel bringen, sanft ohrfeigende Free-Jazz-Dissonanzen entgegen, die einen bald gefangen nehmen. „Mittlerweile klingt das Original fast fremd für mich“, findet Anna Katharina. In die „Habanera“ aus George Bizets Carmen pflanzt wiederum Curt Cress ein verteufelt-verzweigtes Rhythmusdickicht, in das sich Anna Katharina mit verruchter Stimme eine Schneise schlägt. „Die hat es faustdick hinter den Ohren, die Carmen.“ Auch in „Che faro“ aus der Christoph Willibald Glucks „Orpheus und Euridice“ singt sie: die spielerische Leidensmelodie des sich nach Euridice verzehrenden Orpheus. „Nur wer genau hinhört, merkt an der Gesangsstimme, dass es um etwas Höchstdramatisches geht“, erklärt sie.
Überhaupt lohnt es sich, auf „Neuland“ gut hinzuhören. Überall gibt es etwas zu entdecken. Nicht zuletzt in Anna Katharinas eigenen Stücken: Im orientalisch anheimelnden „Die Bergkönigin“ tanzt dieselbe für ihren Gemahl, der mit seinen Männern in den Krieg gegen ihr Heimatland zieht - da treffen die Extase des Reigens und das Heimweh auf das Stakkato des Militärs; das träumerische „Amelie“ (eine Hommage an das großäugige Film-Mädchen) entspannt sich aus einer Drehleiermelodie; in „Vazou“ haben sich Tangotöne eingeschlichen, im „Jalla-Jalla-Teil“ von „Dügün“ gleich alle möglichen Klänge einer wilden türkischen Hochzeit. „Wo ich das herhabe, weiß ich gar nicht“, sagt Anna Katharina, „ich höre so viel und bin offen für alles, das sammelt sich und kommt irgendwann in den unterschiedlichsten Formen heraus.“ Der Stauraum ist riesig in ihrem musikalischen Herz, und einige Türen führen zum Glück auch nach draußen.
(Michael Zirnstein)
(Quelle: Alexandra Doerrie, Another Dimension, 5.3.2007) FORMAT: CD
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