Vor 55 Jahren tat Marilyn Bell einen Sprung ins kalte Wasser und durchschwamm den Ontariosee. Damals war es eine große Sache, ein “Great Lake Swimmer” zu sein, heutzutage ist es ein erstaunliches physisches Kunststück, das man für selbstverständlich nimmt. Es ist ein rasch vergessener Teil der Geschichte wie eine verblasste Landkarte oder eine zerschlissene Fotografie. Oder ein mystischer Ort (= Lost Channel).
Tony Dekkers Great Lake Swimmers haben die vergangenen 7 Jahre damit verbracht, auf Bühnen rund um die Erde zu spielen, auch wenn man sich genau wie bei Marilyn Bell ihrer nicht sicher sein sollte. Lost Channels ist ihr 4. Album, und wieder haben sie es an einem historischen Ort aufgenommen. Dieses Mal handelt es sich um die Region Thousand Islands, am Abfluss des Ontariosees, die an der Grenze zwischen dem Staat New York und Kanada liegt. Sie erzählt Fabeln von verborgenen Geschichten, die noch immer "in dunklen Schächten nach Licht suchen" und "gestimmt sind für ein Instrument von größerer und unbekannter Gestalt." Die Rede ist von Tony Dekkers einzigartiger Stimme, einer Stimme, die Geister aus vergangenen Zeiten herbeiruft. Es ist eine Stimme, die in der Lage ist, Verzweiflung und Hoffnung zum Ausdruck zu bringen. Und das innerhalb einer einzigen Phrase.
Auch wenn seine musikalischen Wegbegleiter mit Ausnahme seiner rechten Hand, Erik Arnesen, über die Jahre wechselten, so hat sich Dekker doch immer mit sympathischen Instrumentalisten umgeben, die luftige Arrangements zur Umrahmung seiner Stimme schätzen. Im Laufe der Zeit hat sich die Band von einer zerstreuten, grazilen und leisen Einheit zu einer gut abgestimmten Folkrock-Band gemausert. Dabei haben sie nichts von ihrer ursprünglichen Intimität geopfert, während sie - wann immer das nötig ist - sowohl das Tempo als auch die Lautstärke anziehen.
Dekker wählt alte Kirchen, Gemeindesäle, ungenutzte Getreidesilos und ländliche Örtlichkeiten für seine Aufnahmen. Leicht ist es zu hören, warum er das tut. Seine Stimme benötigt keine Verschönerung durch Studiotechnik, sie ist am stärksten, wenn sie ein Bad in natürlichem Hall nimmt und angereichert wird durch den historischen Kontext der Umgebung.
Um "Lost Channels" aufzunehmen, zogen Dekker und Gesellen den St. Lawrence River stromaufwärts nach Thousand Islands, auf halber Strecke zwischen Toronto und Montreal gelegen, eine historische und malerische Gegend, die beiderseits an der kanadisch-amerikanischen Grenze liegt und zu einem Naturschutzgebiet erklärt wurde.
Dass dieses Album sowohl in ländlicher Pracht als auch im urbanen Ontario Gestalt annahm, erscheint perfekt zu sein für eine Band, die schon immer fasziniert war von den Parallelen zwischen natürlichen und urbanen Rhythmen. Immer wieder auf "Lost Channels" taucht die Symbolik des Flusses auf. So ist der Titel des Albums eine Referenz an eine bestimmte Passage des St. Lawrence, die in der Nähe der Aufnahmeorte liegt. Dort verschwand 1760 das Aufklärungsboot eines britischen Kriegsschiffes auf mysteriöse Weise.
Zwar gibt es keine direkte Referenz zu dem Vorfall in den Texten, aber jede Menge Nachthimmel, heulende Winde und tosende Flüsse, die ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Mysterium einfangen, in beinahe jedem Lied. Wenn das Album seinem Ende entgegen geht, singt Dekker in den letzten Textzeilen “Wie der unaufhaltsame Fluss… ist Deine Schönheit sanft und doch kraftvoll und beständig”, bevor die Band auf einer einzelnen in der Luft hängenden Note endet. Dort gibt es keine Auflösung, nur Ewigkeit, Kontinuität und einen endlosen Fluss.