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Verspürt der Mensch inmitten seines kreativen Prozesses, dass er gerade dabei ist, etwas ganz Besonderes zu schaffen? Fühlt er die Güte der Inspiration wie eine Erweckung aus apathischem Allerlei? Hat sich Einstein zufrieden auf die Schulter geklopft, als die Relativitätstheorie durch seinen Kopf tanzte? War Mozart von Glück beseelt, als ihm die Jupiter-Symphonie einfiel? Schwebt der Funke des Meisterwerks wie ein goldenes Staubkorn durch den Raum, gewaltig und schwerelos zugleich?
Einfach gefragt: Wann begreift ein Künstler wie Udo Lindenberg die Außergewöhnlichkeit seiner Arbeit, die Relevanz von mehr als einem Dutzend Songs, die beklemmend und euphorisch sind, amüsant und energiegeladen und allesamt durch und durch Udo? „Ich habe gemerkt, dass da etwas Besonderes am Entstehen ist. Und ich habe mir diesmal auch gut Zeit für das neue Album genommen“, sagt er. „Man wird als Künstler heute oft zu einer Art Produktionsmaschine, zwei Monate. Fertig. In diesem Fall war mir aber die Zeit egal, alles ist flexibel. Wenn es ready ist, bringt man es einfach raus.“ Es hat gepasst, weil ein Vertrag mit einer Plattencompany abgelaufen war und Udo keinen Abgabetermin hatte. Als „Stark wie Zwei“ im Roughmix nach eineinhalb Jahren und sogar ein wenig mehr, endlich fertig war, überboten sich die Majors nach dem ersten Abhören mit ihren Angeboten. Warner Music/Starwatch Music erhielt den Zuschlag.
Der Clan des Lindenberg hatte den Unterbau geschaffen, der Pate selbst die tragende Kuppel, der Produzent setzte Säulen und zierliche Balken, wo sie keiner vermutet. Einen Gutteil der Elogen gibt der Künstler gleich an den Produzenten ab, Andreas Herbig (Ich + Ich, Culcha Candela, Ville Valo & Natalia Avelon). „Ich wollte diesmal unbedingt mit Andreas arbeiten und deshalb wartete ich auf ihn, bis er Zeit hatte. Meine Spürnase, die relativ cool ist, sagte: Dieser Mann ist tausend pro! Er zauberte aus seiner Wundertüte junge musische Artisten, die ich vorher nicht gekannt hatte.“
Freunde wie Helge Schneider, Silbermond, Jan Delay, Juli oder Till Brönner („Diese jungen Stilistiker des Sound“) unterstützten darüber hinaus mit ihrer Kunst den Maestro. „Und dann Annette Humpe, meine treue Soulsister, die mich begleitet hat über die ganze Strecke. Als es darum ging von den vielen Fragmenten die Qual der Wahl zu treffen, war sie an meiner Seite. Ich bin ja gewöhnlich so ein sprudelndes Kerlchen, sprudel, sprudel... viele Wege führen erfahrungsgemäß nach Rom, Querstrich Gronau.“
In „Querstrich“ Gronau, Westfalen, wurde Udo Lindenberg am 17. Mai 1946 geboren. Eine Stadt wie ein dünnes Sonderzeichen im Alphabet. Ohne Autonomie für hochfahrende Pläne. Von dort bis zur stattlichen Suite im legendären „Atlantic“ an der Alster sind es 311 Kilometer. Ein halbes Künstlerleben. Die Story von A nach B, von G nach H, hat Udo Lindenberg jetzt in Drei-Minuten-und-ein-paar-Zerquetschte komprimiert: „Mein Ding“. „Es ist eine wahre Geschichte. Ich saß tatsächlich hier vor dem Hotel. Mit Zwanzig. Auf der Wiese. Keine Ahnung, was abgehen wird. Getrampt, hierher gesetzt, Buddel Doppelkorn dabei, leicht breit, auf das Schloss hinauf geguckt und für mich beschlossen, hier werde ich künftig wohnen. In der Präsidentensuite. War mein klares Vorhaben, wenn ich auch nicht wusste wie – als Musiker, als Trommler, als Nachtigall, als Geheimrat auf dem Kiez. Wie gesagt, die Details fehlten, aber das Ziel war da. Und heute habe ich gelernt - mach dein Ding, auch wenn du aus der Provinz kommst und alle dir sagen, es ginge nicht. Mach es charmant, nicht verkniffen, konsequent und gehe deinen eigenen Weg. Lausche den Gesetzen, die dein Blut dir rauscht, wie Hermann Hesse schreibt. Vergiss die Lehrer, die Bedenkenträger tritt in den Arsch.“
Ein Album, wie eine Chronik laufender Ereignisse. Nur viel schöner. Die erste Single-Auskoppelung ist „Wenn du durchhängst“. Eine balladeske Ode an die Freundschaft. „Der Song ist konkret entstanden, als ein Kumpel in Hamburg gerade in Schwierigkeiten war. Er hat an Bord angerufen, ich war auf See. Und dann sagte ich ihm, keine Panik, wir drehen das Ding schon gemeinsam und dann kann dir das alles am Arsch vorbeigehen. Und daraus habe ich den Song gemacht. Wenn man diese Einstellung hat, geht es auch. Viele Freunde haben Troubles und ich bin ja so eine Art Clan-Mensch. Ich bin kein Familienmensch. Eher im Sinne einer Großfamilie italienisch-westfälischen Gepräges. Da hängt man aneinander. Und das ist auch gut so.“
„Was hat die Zeit mit uns gemacht“ sind Beobachtungen in Verse und Noten umgesetzt: „Es handelt von Entfremdungen, wenn man auf falsche Autobahnen gerät, Grenzen erreicht, zu schweigen beginnt als hätte man alles gesagt, als müsse man neu ansetzen, zu neuen Abenteuern aufbrechen. Da kam ein junger Kollege, Simon Triebel, von der Band Juli mit der Idee und ich habe alle meine Erfahrungen und Bilder hinzu gefügt.“
Niemand hat einen funktionierenden Masterplan für ein Hitalbum. Aber manchmal ist bei einem Künstler die Zeit reif dafür. „Es trug sich zu“, so Udo in seinen eigenen Worten, „dass nach Jahren der Entbehrung und des Verzichts viele von den Sympathisanten und Freunden meinten, Udo, tu uns das nicht an, das Leben ist so wenig lebenswert ohne neue Songs. Es schien mir schon wie eine Art Volksbegehren. Stoßgebete in den Rock-Himmel. Bitte, geben sie uns unser täglich Brot. Das traf sich ganz gut, weil ich hatte Lust, mal wieder neue Sachen zu machen. Ja. So sind eben unterschiedliche Songs entstanden.“
Up Tempos, tanzbar, Ur-Udo, dann wiederum entwaffnende Balladen. Oder Spaß, wie „Chubby Checker“. „Der Song ist im Gespräch mit Helge Schneider hier an der Hotelbar im ‚Atlantic’ entstanden. Das ging los mit der Frage, ob es nicht reizvoll wäre, getarnt in der Gegend unterwegs zu sein.“ Als Hoteldetektiv zum Beispiel. Mit Rex, dem Drogenschnüffelhund.
„Nasses Gold“ ist ein Bericht über experimentelle Reisen ins Unterbewusste, die Suche nach speziellen Weisheiten, der der Künstler schon immer folgte. Die Ermittlung der Wahrheit im Wein, im Absinth, in allen möglichen Stimulantien, der Schlüssel zum Umgang mit diesen verbotenen Dingen, dass sie einen nicht kaputt machen, sondern nur den gewünschten Kick geben, der die Reise in eine buntere Welt ermöglicht. „Da erzähle ich von Beobachtungen, die ich gemacht habe. Man muss auch den Mut haben, sich hinunter zu trauen, ganz tief, um das nasse Gold zu heben.“
Gemeinsam mit Stefanie von Silbermond schrieb Udo „Der Deal“. „Silbermond ist eine starke Band, extrem. Sie waren einmal bei uns auf der Bühne, mit großer Show, supersupergut. Und ich dachte, das passt. Stefanie fand es auch gut und hat noch etwas dazu geschrieben."
„Verbotene Stadt“ brilliert mit der Trompete von Till Brönner, „Der Greis ist heiß“ ist ein Song, der mit seiner Semantik einen Spitzenplatz in der ewigen Bestenliste Lindenbergscher Songs einnehmen kann:
„Alte Männer sind gefährlich,
denn die Zukunft ist egal,
alte Frauen sind begehrlich,
denn es ist vielleicht das letzte Mal“
Jan Delay und Udo Lindenberg kennen einander schon eine ganze Weile. Jan ist erklärter Verehrer des Paten des Rock. „Ich berate ihn zum Ruhm und Reichtum, weil er ist ja ganz neu dabei und er tut an meinen Texten rum, wir gehen halt so um, wie Kumpels miteinander umgehen“, erklärt Udo seine Freundschaft mit Jan Delay, die diesmal in dem Song „Ganz anders“ gipfelt.
„Woddy Woddy Wodka“ ist ein „Gute-Laune-Lied“ eines Mannes, der montags oft mal darunter leidet, am Wochenende much to much getankt zu haben, „aber wenn er den Konditionstest gut überstanden hat, ist er am Freitag Abend wieder gut da.“
„Ich zieh meinen Hut“ ist eine Reverenz an die Kumpels: „Erstaunlich, wenn man ein bisschen älter ist, was man alles überlebt hat. Erstaunlich, dass man so lange durchgehalten hat. Ich war dafür gar nicht gerüstet, in den 60er Club einzuziehen, aber man ist ja in bester Gesellschaft. Man zieht den Hut vor den Freundinnen, den Freunden, aber letztendlich auch vor sich selber, man ist gemeinsam an Abgründen entlang getanzt, zwar mal abgestürzt, aber nie tödlich gecrasht.“
In „Interview mit Gott“ bekommt Udo von oben einiges zu hören, ein Track, der Aufsehen erregen wird, tektonische Spannungen hervor rufen und Anstoß zur Diskussion geben kann. Denn Gott sagt, er habe ja schon seine Topverwalter auf die Erde gesandt, den Ghandi, den Martin Luther King, Jesus, sogar den Scheinheiligen Vater, aber er habe als Gott schließlich auch einen Job und anderes zu tun, als nur auf die Menschen zu hören: „Ich hab zwar schön die Welt erschaffen, ihr habt sie vollgeknallt mit Waffen, immer noch die alten Idioten mit Millionen von Toten.“
Der berührendste Song auf dem Album ist der Erfahrung mit dem Tod eines nahen Menschen gewidmet, „Stark wie Zwei“, gleichzeitig auch der Titelsong des Longplayers. Er drückt Verzweiflung aus, aber gleichzeitig auch die Hoffnung: „Egal, wo ich hin geh, du bist dabei, stark wie zwei.“
Gehört nicht eine Portion Überwindung dazu, sich zu öffnen, seine tiefsten Gefühle hervorzukehren und sie dem Publikum anzubieten? „Ich singe für Leute“, sagt Lindenberg dazu, „die mir nahe sind. Meine Kumpels, meine Buddys. Ich denke nie an ein fernes, anonymes Volk. Ich bin denen nicht fremd, ich bin Familienmitglied. Großer Bruder. Ich bin niemand, der seine Seele verschließt und die Schleusen nicht öffnet, sondern ich bin da.“
Hamburg, an der Alster. Der Frühling kündigt sich an. Kräftiger Wind faucht durch die Alleen. Schwarzer Mantel, dunkle Brille, brauner Hut. Udo Lindenberg raucht die zweite Davidoff des Nachmittags. Er ist unterwegs ins Studio, den letzten Song für das Album einsingen. „Der Astronaut muss weiter.“ Ob er in der langen Zeit, in der er musikalisch geschwiegen hat, jemals daran gedacht habe, die Musik aufzugeben, wird er gefragt. „Nein“, sagt er, „nie.“ Musik mache er gern, sagt er und sie bleibt immer die faszinierende Spitze der Gesamtkunstattacke Lindenberg. „Ich bin ja ein Sänger vom Polarkreis“, sagt er. „Und ich polarisiere auch, ausgebildet am Polarkreis, wegen der Coolness. Leute, die sagen, so etwas brauchen wir gar nicht, ja, die brauche ich auch nicht. Ich halte nichts von taktieren und Zielgruppe so und so. Nee.“
Und der Blick geht weit. Ganz weit. Bis nach Gronau vielleicht.
(Quelle: Warner Music, 2008)
FORMAT: CD
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