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CD-DETAILS REPLACE WHY WITH FUNNY (DIGI) [DEAR READER]

Dear Reader

Replace Why With Funny (Digi) [Pop]


RELEASE: 20.02.2009


LABEL: City Slang

VERTRIEB: Universal

WEBSITE: www.dearreadermusic.com

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„Nein, nein, ich liebe dieses Land“, sagt Cherilyn McNeil, die eine, stimmgewaltige Hälfte von DEAR READER aus Johannesburg, Südafrika. „Und ich hasse es hier auch“, fügt sie hinzu. „Ich fühle mich hier oft fremd und nicht zugehörig. Aber nach Schottland, oder England oder Holland, wo überall meine Ahnen herkamen, da gehöre ich auch nicht hin.“ Und seufzt: „Ach ich weiß es nicht. Das hier ist schon meine Heimat...“

Dieser Antagonismus allein sagt schon sehr viel über die Unvereinbarkeiten aus, in denen diese Band tagtäglich agiert und existiert.

Johannesburg, das ist die restlos überbevölkerte, hässliche Fratze von Südafrika, einem eigentlich wunderschönen Land, das über eine dermaßen verwirrende Bevölkerungsstruktur verfügt, dass es für uns gemeinen Nordeuropäer kaum nachvollziehbar ist. Ein Land, in dem es allein elf (!) verschiedene Amtssprachen nebeneinander gibt. Die Mitglieder von DEAR READER (neben Cheri noch Darryl Torr an Bass und Keyboards, live stößt außerdem Schlagzeuger Michael Wright dazu) gehören alle zu der kleinen, britisch-stämmigen Minderheit, die, historisch gewachsen, ungeliebt neben den in Südafrika unter den Weißen dominierenden Afrikaans existieren. Sie fühlen sich also weder der Mehrzahl unter der weißen Minderheit, den Afrikaans zugehörig, noch dem schwarzen Gros der Bevölkerung. Südafrika ist das Land mit der höchsten Kriminalitätsrate der Welt.

Die Mitglieder von DEAR READER leben in Johannesburg, wie der Großteil der südafrikanischen Mittelschicht hinter enorm hohen Mauern und Stacheldraht, in ständiger Gefahr Opfer von Gewalttaten und Raubüberfällen zu sein. „We live in constant fear“ ist kein einfach so dahin gesagter Satz sondern eine Tatsache. Seit das Land in den letzten Jahren flutartig unter vielen Millionen von Flüchtlingen aus Botswana, Mosambik und anderen Nachbarstaaten ächzt, ist es mit der ständigen Gewalt nur noch schlimmer geworden.

Man muss, zumindest ein wenig, diese Umstände im Hinterkopf haben, um die Entstehung der Musik von DEAR READER in den richtigen Kontext zu bringen. Denn wer von uns kann es sich schon vorstellen in einer Gesellschaft zu leben, die von ihrer 40-%igen (!) Arbeitslosenquote geprägt ist, in der ein Menschenleben keinen Wert mehr zu haben scheint, und in der Korruption, Filz und Wildwuchs jegliche Hoffnung auf Fortschritt zunichte machen.

Aber das sind nur die Begleitumstände. Dieses Album ist eigentlich ein sehr persönliches. Denn Cherilyn McNeil ist natürlich dennoch eine sehr lebenslustige, ja fast aufgedrehte junge Frau von 24 Jahren, die ein solches Ausnahmetalent am Klavier ist, dass sie schon seit Jahren vom Unterrichten an diesem Instrument leben kann. Über ihre Stimme müssen wir hier nicht viele Worte verlieren, die verschlägt einem eh die Sprache.

Darryl Torr ist ein versierter Tonmeister und Studio-Ingenieur, der tatsächlich einen echten Grammy auf seinem Kühlschrank stehen hat, für seine Produktion mit dem auch hierzulande relativ bekannten Soweto Gospel Choir. Er arbeitet hauptberuflich in den Tonstudios der South African Broadcasting Company (SABC), einem staatlichen Radiosender, mitten in Johannesburg gelegen.

In diesem Furcht einflößenden Ungetüm von einem Gebäude haben auch DEAR READER das vorliegende Album aufgenommen. Allerdings haben sie sich etwas Hilfe aus der nördlichen Hemisphäre geholt. Die Geschichte ging eigentlich so: DEAR READER hießen ursprünglich Harris Tweed, was in einer Kette mit gruseligen Bandnamen aus Südafrika steht (Taxi Violence? Cassette? Zebra & Giraffe? Da können wir in Deutschland aber auch einiges bieten...).

Das aufstrebende Radiopop-Duo Harris Tweed also spielte ein Showcase auf der Popkomm 2007 und war danach noch ein paar Tage in London. Dort sahen sie zufällig ein Konzert unserer fantastischen Art-Pop Band MENOMENA aus Portland, Oregon. Und sie, deren einzige Inspiration in Südafrika aus briefmarkengroßen Youtube-Videos über rumpelige Internetleitungen besteht, hatten eine wahre künstlerische Erweckungs-Erscheinung.

„There was a room full of 500 people singing along with every word to this competely and wonderfully strange music. We bought their album and I listened to nothing else for the next three months“ erzählt Cherilyn McNeil. Dann wurde eine Liste von Wunschproduzenten erstellt, die Harris Tweed helfen sollten ihr zweites, völlig anderes Album aufzunehmen. Und Menomena standen ganz oben auf dem Zettel.

Die Verwandlung komplett machte dann ein anderes, zeitgleiches Ereignis: Die Harris Tweed Foundation aus Schottland, Hüter des Grals edelster Stoffe und des gleichnamigen Markenzeichens dafür, entsandte einen harschen Brief, dass die Band auf keinen Fall Harris Tweed heißen dürfe, denn das sei nun mal eine Stoff Appelation Controlé...

Ein Jahr zuvor noch hatte die gleiche Foundation ihren Segen gegeben, doch der Laptop mit eben dieser Bestätigungs-Email war beim letzten Wohnungs-Einbruch abhanden gekommen... Eine Myspace-Kontaktaufnahme später und Brent Knopf von Menomena rief uns hier in Berlin an, um uns zu informieren, dass sein Rückflug von der Europa Tour im März 08 aus Amsterdam umgebucht werden müsse. Er fliege jetzt erstmal nach Johannesburg um eine Band zu produzieren. Wir dachten nicht länger drüber nach und buchten um...

Für zweieinhalb Wochen verschwand Brent mit dem nun namenlosen Duo hinter den meterdicken Mauern einer Hochsicherheits-Festung aus düstersten Apartheit-Zeiten, dem schon genanten SABC Studio-Komplex. Als er wieder ins Flugzeug auf den unendlich langen Flug zurück nach Portland stieg, hatte er zwar absolut nichts von der Schönheit Südafrikas gesehen, war sich aber sicher, Teil eines einmaligen Kreativprozesses gewesen zu sein.

Er hatte Gospelchöre arrangiert und dirigiert. Waldhörner und Trompeten platziert. Selber Schlagzeug, Piano und Gitarre gespielt, gesungen und eine Band, die sich von ihm nur zu gerne inspirieren und mitreißen ließ, zu musikalischen Höchstleistungen getrieben. Man kann etwas davon ahnen, wenn man sich die kleinen Filme auf der MySpace-Seite anschaut. Ein von allen Bandmitgliedern als rasend intensiv beschriebener Aufnahmeprozess, bei dem Harris Tweed zu DEAR READER wurden, dessen großartiges Endergebnis nun vor uns liegt und auf den merkwürdigen Namen „Replace Why With Funny“ hört.

Ein Album, das mit seiner Reichhaltigkeit und Vielschichtigkeit entschieden in die Kategorie der „Grower“ gehört. Die Fassade erscheint zunächst sehr glossy, sehr slick abgemischt, mit Cherilyn’s weit nach vorne gemixter Stimme und dieser Vielfalt an „sticky little Melodies“ (Darryl). Die Songs fangen durchweg sehr “light“ an (s.a. „Dearheart“ oder „Great White Bear“), um im sich im weiteren Verlauf in mächtige und dramatische orchestrale Anordnungen zu steigern. Da türmen sich geschichtete Chöre neben Waldhörnern und enorm dicken Geigen.

Und ja, der durchschnittlich zynische Engländer wird an der unvermittelten Direktheit von Cherilyns aufrichtigen und höchst persönlichen Texten zu knabbern haben. Der Ausdruck „das Herz auf der Zunge tragen“ wurde für diese Musik und diese Texte erfunden. Denn natürlich, egal ob über eine dritte Person, männlich oder weiblich, gesungen wird, es dreht sich eigentlich immer alles um sie selbst. Und ja, Menschen, die ein Problem mit gut gemachtem, extrem dick auftragendem Kitsch haben, sollten lieber nicht bis zu der unfassbar mutigen ich-gebe-jetzt-mal-dem-jungen-Südafrika-eine-Stimme-Hymne „The Same“ vordringen. Alle anderen werden reich belohnt.

Jeder einzelne Song auf diesem Album ist eine Skulptur für sich, in liebevoller Feinarbeit von den drei Musikern im Studio zurecht gefeilt, aufeinander getürmt und angeordnet worden. Eine Meisterleistung in Sachen euphorisierter Arrangeurskunst. Dabei immer so von Herzen kommend, es ist fast nicht auszuhalten. Wie schreibt die Band auf ihrer Myspace Seite in der Rubrik sounds like: „...when you feel so much that you think you might explode and then laugh at yourself for being such a melodramatic douchebag!“

Genauso klingt das. Ohne Floskel-Alarm: Für uns schon jetzt die Platte des Jahres 2009. Ein alles in allem enorm vollkommenes Prunkstück von einem Album. Popmusik, nah an ihrem Idealzustand...

Dear Reader live - Tourdates 2009

  • 15.04. Berlin - Lido*
  • 16.04. Hamburg - Molotow*
  • 17.04. Bielefeld - Forum*
  • 18.04. Köln - Gebäude 9
  • 19.04. München - Ampere*
  • 20.04. Heidelberg - Karlstorbahnhof
  • 21.04. Wiesbaden - Räucherkammer
  • 22.04. Stuttgart - Schocken

  • *mit I Might Be Wrong
(Quelle: Anne Müller, City Slang, 2009)


FORMAT: CD


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